Der Simulator
dann ist es ein Grieche, und weiter?«
»Zenon.«
Der Doc schien Spaß daran zu finden, mich im Dunkeln tappen zu sehen. Oder machte er sich über meine mangelhafte Allgemeinbildung lustig?
Als mir die Geschichte schließlich doch einfiel, hätte ich mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen: Achilles und die Schildkröte!
In diesem Paradoxon zeigt Zenon, dass selbst ein schneller Läufer wie Achilles die langsame Schildkröte nicht einholen kann, wenn er ihr einen Vorsprung gelassen hat. Kaum hat er nämlich diesen Vorsprung aufgeholt, ist das Tier ein kleines Stück weitergegangen. Hat er auch diese kleinere Strecke bewältigt, ist die Schildkröte ein weiteres Stückchen gelaufen. Und so fort ad infinitum.
Obwohl die Behauptung, Achilles würde die Schildkröte nicht einholen, dem gesunden Menschenverstand so offensichtlich widersprach, konnte sie Jahrhunderte lang weder von Philosophen noch von Mathematikern widerlegt werden. Natürlich war es heutzutage für jedes Schulkind ein Leichtes, den Gegenbeweis anzutreten, und doch übte dieses Rätsel immer noch eine große Faszination aus. Was aber wollte mir Blinzle damit sagen?
Doc Schmitt zog noch einige Male an seiner Zigarre. Wenn ich mich nicht täuschte, betrachtete er den Stummel mit einer gewissen Wehmut. »Man weiß nicht genau, was Zenon damit beweisen wollte. Da gehen die Meinungen auseinander. Manche sagen, er wollte zeigen, dass jede Bewegung Illusion ist.«
Bewegung ist nur eine Illusion, dachte ich. Konnte man das auf Blinzle anwenden, auf den Simulator, auf unsere Arbeit? »Und was sagen die anderen?«
»Was die anderen sagen, ist ganz ähnlich, nur allgemeiner. Sie sagen, dass man die tatsächliche Welt, also die Realität, nicht mit den Sinnen wahrnehmen kann, dass unsere Wahrnehmungen uns in die Irre führen, dass die Welt nicht so ist, wie sie erscheint.«
»Misstraue dem, was du zu sehen glaubst?«
»So ungefähr.«
Machte das mehr Sinn? Wir diskutierten noch eine Weile, ohne zu tiefschürfenden Erkenntnissen zu gelangen. Dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, weitergekommen zu sein. Allerdings hätte ich das Ergebnis unseres Gesprächs nicht in Worte fassen können.
Die Schwarze Zigarre hatte sich zwischenzeitlich gefüllt. Meistens waren es Männer, die trinkend und rauchend herumstanden. Ich übernahm die Rechnung, weil ich Docs notorische Geldknappheit kannte. Der Betrag, mit dem mein persönlicher Kommunikator belastet wurde, war allerdings erschreckend hoch. Aber ich war froh, meinem alten Lehrer eine kleine Freude bereitet zu haben. Jedes unserer Treffen konnte das letzte sein. Ein Gedanke, der mich in letzter Zeit beschlich, wenn wir uns sahen. Nicht, dass Doc Schmitt besonders gebrechlich gewirkt hätte, und doch schien er mir wie etwas, das man nicht festhalten konnte, das einem wie Wasser durch die Finger rann. Auf der Straße verabschiedeten wir uns herzlich.
Was dann geschah, hätte mein Ende sein können. Es wäre mein Ende gewesen, wenn sich nicht ein Wunder ereignet hätte.
Ich war zugegebenermaßen nicht sonderlich aufmerksam, als ich die Bahnhofsstraße zurück zum Bismarckplatz lief, um eine S-Bahn in westliche Richtung zu nehmen. Zu sehr ging mir das Gespräch mit meinem ehemaligen Lehrer nach, die Erinnerungen, die mit dieser Begegnung wieder in mir hochgekommen waren. Doch dann stand ich in einer kleinen Gruppe von Fußgängern und Segwayfahrern am Europaplatz, dem ehemaligen Seegarten, und wartete auf Grün. Mein Blick war auf die Sekundenanzeige der Ampel gerichtet, die quälend langsam herunterzählte, als ich aus den Augenwinkeln einen dieser riesigen, städtischen E-Busse aus Richtung Fernbahnhof nahen sah. Fast lautlos glitt er auf seiner eigenen Fahrspur dahin, während sich ringsum der Individualverkehr staute. Von allen unbeachtet, wäre er wenige Sekunden später im Altstadttunnel verschwunden.
Doch irgendetwas war anders als sonst, etwas erregte meine Aufmerksamkeit. Vielleicht ein Schwanken des Aufbaus, ein unmerkliches Abweichen von der vorgegebenen Bahn, irgendeine Kleinigkeit, die mein Unterbewusstsein aufnahm und die mich sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Zu Hilfe kam mir, dass ich hochgradig sensibilisiert war. Das Gespräch mit Doc Schmitt, das Rätsel von Achilles und der Schildkröte, die seltsamen Ereignisse der letzten Wochen hatten meine Sinne auf das Äußerste geschärft. Auch meine vermeintliche Paranoia hatte sicherlich ihren Beitrag dazu
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