Der Simulator
Geld gehabt, einem solchen Hobby nachzugehen. So hatte er ohne Kowalskis Wissen ein städtisches Archiv programmiert, dessen Aufgabe es war, von der Zerstörung bedrohte Druckwerke aufzuheben und zu konservieren.
Ein völlig verrückter, aber für Blinzle typischer Plan, handelte es sich bei diesen Büchern doch um elektronische Ausgaben, deren physische Erscheinung lediglich simuliert wurde, also rein virtuell war. Das war ihm allerdings gleichgültig gewesen, solange er hinunter in den Simulator konnte, um sie in die Hand zu nehmen, um an ihnen zu riechen, um sich mit ihnen in einen Sessel des gleichfalls virtuellen Lesesaals zu setzen und darin zu blättern oder zu lesen.
Und hier kam Elea Hauser ins Spiel. Das Archiv war ihr Leben. Sie traf die Auswahl der zu beschaffenden Bücher, sie machte sie den Besuchern zugänglich und sie unternahm alles, um sie vor dem Zerfall zu bewahren. Denn diesen hatte Blinzle ebenfalls programmiert, um den Gesamteindruck so realistisch wie möglich zu gestalten.
Das war also Blinzles Hobby gewesen, eines seiner vielen, denn als Herr des Simulators hatte er sich manch einen Wunsch erfüllt und sich den einen oder anderen Spaß erlaubt. Wenn Kowalski etwas davon wusste, hatte er beide Augen zugedrückt, und auch wir anderen waren stillschweigend darüber hinweggegangen. So war mir manch ein Detail entfallen.
Auf jeden Fall stand jetzt fest, dass Elea Hauser Blinzle gekannt haben musste. Sicher waren sie sich mehr als einmal im Archiv oder im Lesesaal begegnet. Vermutlich hatten sie auch miteinander geredet. Wenn also Blinzle eine Nachricht oder einen Hinweis für mich hätte hinterlegen wollen, dann wäre das Archiv der richtige Ort dafür gewesen. Das beste Versteck der Welt, weil es nicht Teil unserer Welt war.
Draußen wurde es langsam hell, ein fahles Licht, das zuerst den Himmel füllte, um dann langsam der Erde entgegen zu sinken. Es wurde Tag.
»Da bist du ja, Marc!« Kerstin kam durch die Tür. Es war nicht einmal acht Uhr morgens. »Ich habe dich heute Nacht angerufen. Mehr als einmal.« Es schien die Nacht der vergeblichen Anrufe gewesen zu sein. Ich fragte mich, was sie von mir wollte, sagte aber nichts. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das, was du denkst. Kowalski möchte, dass du so früh wie möglich im Büro bist.« Mit einem seltsamen Blick sah sie mich an. »Ich bin nur die Überbringerin der Nachricht.«
»Ich bin da. Was ist passiert?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Dann warf sie einen Blick zurück. »Aber er wird es dir sicher gleich selbst sagen.«
Kowalski trat federnden Schrittes ins Büro. Er roch nach Seife und Rasierwasser, so als sei er geradewegs aus dem Bad gekommen. »Marc, Sie sehen ja richtig beschissen aus! Was haben Sie die ganze Nacht angestellt, doch nicht etwa gearbeitet?« Dann sah er zu Kerstin und zwinkerte ihr komplizenhaft zu. »Verstehe, verstehe... Eine lange Nacht also.« Kerstin schlug die Augen nieder und ging hinaus. Ich zog es vor, nicht auf seine Anspielung einzugehen. »Marc, ich habe eine Überraschung für Sie. Eine positive, wie ich hoffe, denn es ist mir gelungen, einen alten Bekannten mit ins Boot zu holen.« Er drehte sich zur Tür. »Ralf, kommen Sie bitte?«
Ralf Fassbender kannte ich schon lange, doch gesehen hatte ich ihn seit mindestens zwei Jahren nicht mehr. Und so wie er plötzlich in meinem Büro stand, materialisierte, als sei er direkt aus der Hölle aufgestiegen, war ich tatsächlich überrascht. Angenehm überrascht allerdings nicht.
»Darf ich Ihnen Ihren neuen Assistenten vorstellen? Dr. Ralf Fassbender.«
Ralf trat vor, um mir vielleicht die Hand zu geben, da ich aber keine Anstalten machte, mich zu erheben, blieb er verlegen vor dem Schreibtisch stehen. Stattdessen sagte ich: »Ich brauche keinen Assistenten.« Es klang eine Spur zu trotzig, aber ich kam mir wie ein kleines Kind vor, dem man Rizinusöl verordnet hatte.
»Mein lieber Marc, wir alle brauchen Assistenten. Ich brauche einen, Sie brauchen einen, und auch Ralf wird eines Tages vielleicht selbst einen brauchen.«
Das war eine unverhüllte Drohung, und ich musste schlucken. Offenbar hatte Kowalski es eilig, sich eine personelle Alternative zu mir heranzuziehen. In seinen Augen war ich wohl ein unsicherer Kantonist, auf den man sich nicht länger als nötig verlassen durfte.
»Haben sie ... dir den Doktorhut schließlich geschenkt?« Obwohl wir uns seit jeher duzten, fiel mir die vertrauliche Anrede nicht
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