Der Sixtinische Himmel
milde.
Michelangelo wähnte den Gelehrten auf seiner Seite. »Was glaubt Ihr?«, fragte er. »Hatte sie bei ihrer Weissagung tatsächlich Julius im Sinn?«
Erasmus legte die Hände ineinander. »Ich glaube, dass der Geist vieler Menschen von Eitelkeiten verstellt ist und sie nur erkennen können, was sie zu sehen begehren.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Die Cumäische Sibylle hat auch noch anderes geweissagt: ›Krieg, schreckliche Kriege, seh ich voraus und wallen vom vielen Blute den Thybris.‹ Mir scheint, Ihr selbst müsst entscheiden, welche Prohezeihung Euch im Bezug auf den Heiligen Vater als die treffendere erscheint.«
Erasmus’ Worte arbeiteten in Michelangelo. Es war keine Frage, welche Weissagung die treffendere war: Julius war ein Kriegstreiber, kein Heilsbringer. Doch was bedeutete das für die Darstellung der Cumäischen Sibylle? Erst, als Rosselli, Aurelio und er gemeinsam den Vatikan verließen und an zwei versteinert stehenden Wachen der Schweizergarde vorbeigingen, denen der Schweiß unter den schrägsitzenden Baretten hervorrann, stieß er plötzlich hervor: »Die hässliche Fratze des Krieges.« Sie hatten den Petersplatz bereits zur Hälfte hinter sich gelassen, als er hinzufügte: »Zeit für eine anatomische Exkursion.«
Zwei Tage später war dem Umriss der Cumäischen Sibylle das hässlichste Gesicht gewachsen, das Michelangelo in den Dampfbädern des Borgo Leonino auftreiben konnte, und eines der nackten Kinder, die mit der Sibylle in dasselbe Buch blickten, streckte seinen Daumen zwischen Mittel- und Zeigefinger hindurch.
»Bitte sag mir …« Rosselli deutete auf die ordinäre Geste, seine Stimme hatte einen ungewohnt ernsten Ton angenommen, »… dass du nicht ernstlich beabsichtigst, eine mano in fica auf die Decke der Sixtinischen Kapelle zu malen.«
Michelangelo kratzte sich verlegen unter dem Kinn: »Von unten wird es nicht zu erkennen sein«, erklärte er.
»Das ist nicht nur unsittlich«, sagte Rosselli strenger denn je, »es ist in höchstem Maße gefährlich.«
Sein heimtückischer Scherz war Michelangelo sichtlich peinlich. Doch das änderte nichts. »Ich weiß.«
»Das heißt, du tust es dennoch?«
Der Bildhauer verzog entschuldigend die Lippen.
»Sich auf solche Weise zu rächen ist kindisch«, sagte Rosselli.
»Ich räche mich nicht«, erwiderte Michelangelo.
Das wusste Aurelio besser. Die »Feigenhand« konnte gar nichts anderes sein als Michelangelos heimliche Botschaft an Papst Julius, seinen Peiniger. Im Verborgenen und dennoch direkt unter seinen Augen würde er ihn zum Narren halten und seine vergötterte Kurtisane aus dem Marmor meißeln. Sieh her, sagte die Geste: Ich strecke dir den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch direkt in dein Gesicht. Und du siehst es nicht einmal!
XXXVIII
So leer hatte Aurelio den Petersplatz noch nie erlebt. Gespenstisch. Vergangene Woche war die Piazza noch rund um die Uhr bevölkert gewesen. Dann allerdings hatte Julius einsehen müssen, dass es inzwischen zu kalt geworden war, um die Arbeiten an Sankt Peter und dem Belvedere-Korridor auch nachts weiterzuführen, und er hatte die nächtlichen Lieferungen einstellen lassen. Seitdem kehrte nach Sonnenuntergang Ruhe ein.
Doch nicht so wie heute. Heute war es, als sei Gott mit unsichtbarer Hand über die Piazza hinweggefegt. Lediglich zwei Hunde lungerten am Brunnen herum, von denen einer schlief und der andere erwartungsvoll auf Aurelio zutrottete, nachdem er dessen Schritte in seinem Rücken gehört hatte.
»Ich hab nichts«, flüsterte Aurelio und ging die Rampe zum Tor hinauf, durch das sich tagsüber der Tross aus Arbeitern, Lieferanten und Pferdefuhrwerken in den Vatikan schob.
Aurelio hoffte, Trost zu finden, Zuversicht, eine Antwort. Oder auch nur Klarheit. Auch damit wäre bereits viel gewonnen. Über sich, Margherita und Aphrodite, über diese widerstreitenden Gefühle, die seine Brust jeden Tag aufs Neue in eine Schlangengrube verwandelten. Aus diesem Grund war er hergekommen. Das wusste er jetzt. Erst war er auf der anderen Tiberseite von der Torre di Nona bis hinunter zum Ponte Sisto gelaufen, anschließend war er so lange durch den Borgo geirrt, bis er schließlich den Petersplatz erreicht hatte. Erst hier war ihm klargeworden, dass seine nächtliche Wanderung ein Ziel gehabt hatte: die Pietà.
Seit Michelangelo ihm damals die Statue der Maria mit dem toten Jesus auf dem Schoß gezeigt hatte, war Aurelio nicht wieder in die
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