Der Sixtinische Himmel
Vorhaben abbringen.
Nicht ein Tag verging, ohne dass er an Aphrodite gedacht hätte, ihren köstlichen, bittersüßen Geruch in der Nase hatte, sie vor sich sah, ihre sich aufrichtenden Brüste, ihre Lapislazuliaugen, an denen er sich für alle Zeit verbrannt hatte. Doch sie begann, sich von ihm zu entfernen, und das erfüllte Aurelio mit wachsender Unruhe. In manchen Nächten gelang es ihm nur noch unter körperlicher Anstrengung, ihre Gegenwart heraufzubeschwören, ihren Körper, die Hände, die über den Teppich geglitten waren, hinter dem sie ihn, Aurelio, gewusst hatte. Seit einigen Tagen kam es vor, dass Aurelio keuchend und mit ausgetrocknetem Mund aus dem Schlaf hochschreckte, sich zu Hause wähnte, auf dem Hof seiner Familie bei Forlì, und einen panischen Moment lang glaubte, dass alles nur ein Traum gewesen war: Antonia, die brennende Scheune, Rom, Margherita, die Sistina, Michelangelo, Aphrodite, einfach alles. Dann nahm die Kammer um ihn herum wieder Gestalt an, und er wusste nicht, was ihm lieber gewesen wäre: die Realität oder dass sich alles als Traum entpuppt hätte.
Was Margherita betraf, so war Aurelio inzwischen so weit, sich zu wünschen, sie möge sich als Traum entpuppen. Er schämte sich seiner Gefühle für sie – dafür, dass sie sich wandelten. Wenn er daran zurückdachte, wie sehr er sie begehrt hatte, gegen seinen Willen, ihren üppigen Körper, ihre Weiblichkeit, wie er erfüllt gewesen war von dem Wunsch, sie zu besitzen … Lange war er im Kreis gelaufen vor Eifersucht, wenn er sich vorstellte, wie sie andere Männer empfing, mit ihnen ihr Bett bestieg. Es hatte ihn wütend gemacht, wie sie über sich und ihren Körper sprach – als sei er lediglich ein Werkzeug, das man bei Bedarf benutzte, um es anschließend achtlos beiseitezulegen. Noch wütender hatte es ihn gemacht, dass es sie nicht zu stören schien, auf diese Weise benutzt zu werden.
Inzwischen waren seine Gefühle im Begriff, sich zu verkehren. Sie wollte sich benutzen lassen? Bitte sehr. Wenn Aurelio ehrlich war: Auf eine heimtückische Weise erleichterte es ihn. Es lieferte ihm einen Vorwand, sich von ihr abzuwenden. Auch dafür schämte er sich. Die Begegnung vorhin, so peinlich sie gewesen war, stellte im Grunde nur den vorläufigen Schlusspunkt einer Entwicklung dar.
Was war geschehen? Nun, Aurelio hatte den Weg genommen, den er jede Woche nahm: an Imperias Villa und der Piazza Scossacavalli vorbei hinunter zur Engelsburg und über die Engelsbrücke, die bereits in Nebel gehüllt war, weshalb die Gespräche und die Geräusche der Nacht wie in Wolle gebettet umhergeisterten. Anschließend hatte er den Weg flussaufwärts zur Torre di Nona eingeschlagen und war schließlich vor Margheritas Haus angelangt, die soeben ihren Balkon wie eine Bühne betreten und die zweite Fackel aufgesteckt hatte, zum Zeichen, dass sie bereit war, Aurelio zu empfangen.
Ihr Kleid war aus nachtblauem Samt, mit einem modischen, eingewebten Muster, das rote Blumenvasen zeigte. Die meisten Vorbeigehenden legten ihre Köpfe in den Nacken, zwei blieben stehen. »Die mit den schönen Kleidern«, flüsterte der eine dem anderen zu.
Sie erkannte Aurelio, lehnte sich leicht gegen die Brüstung, ließ ihr Dekolleté aufleuchten und lächelte auf ihn herab: »Gerade zur rechten Zeit«, sagte sie, und die beiden Stehengebliebenen drehten sich neiderfüllt nach ihm um.
Aurelio versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, glitt unter dem Balkon hindurch und wollte gerade die Tür aufdrücken, als sie von innen geöffnet wurde und Granacci vor ihm erschien, edel, aber nachlässig gekleidet und offensichtlich zufrieden mit sich und der Welt. Einen Moment standen sie einander gegenüber, und Aurelio wünschte sich eine Falltür, um im Boden zu versinken.
Granacci schmunzelte. »Lass mich raten«, sagte er, »du wolltest deine kranke Großmutter besuchen.«
Aurelio versank im Boden, ganz ohne Falltür.
Da er unfähig zu einer Antwort war, ergänzte Granacci nach einer Weile: »Na, dann grüß sie schön von mir.«
»Wen?«
»Deine Großmutter«, antwortete Granacci im Hinausgehen. Er hatte getrunken, korsischen Wein. Der Geruch folge ihm auf die Straße.
Die Tür schloss sich. Aurelio stand verloren im spärlich erleuchteten Durchgang. Wusste Granacci von seiner Beziehung zu Margherita? Hatte er am Ende die ganze Zeit über gewusst, dass sie sich dieselbe Kurtisane teilten? Und wenn ja: Was bedeutete das für ihn? Nichts, ging es Aurelio durch den
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