Der Sixtinische Himmel
Kopf. Wahrscheinlich würde es Granacci sogar belustigen. Aurelio erging es da ganz anders. Bei der Vorstellung, jetzt mit Margherita in das Bett zu steigen, dass sie eben noch mit Granacci besudelt hatte, kam er sich furchtbar schäbig vor. Alles zwischen Margherita und ihm – wie immer man es nennen mochte – war verlogen. Er war verlogen. Diese ganze Stadt war verlogen! Und jeder schien das normal zu finden.
Im ersten Stock wurde eine Tür göffnet. Margheritas geflüsterte Stimme rauschte die steinernen Stufen hinab. »Geliebter – wo bleibst du?«
Das Parfüm, das Granacci sich großzügig auftupfte, bevor er seine nächtlichen Streifzüge unternahm, hing noch im Raum.
Margheritas Hand kreiste vor seinem Gesicht. Sie hielt etwas zwischen den Fingern. »Nimm«, sie führte die Frucht an seine Lippen, eine getrocknete Feige.
Aurelio wandte den Kopf ab. »Ich will nicht.«
»Sie sind köstlich, glaub mir! Hat mir der apostolische Brevenschreiber …«
»Ich will nicht!«
»Nanu?« Margherita steckte sich die Feige selbst in den Mund und leckte sich die zuckrigen Fingerspitzen ab. »So missgelaunt?«
Aurelio trat an das Fenster und blickte auf den nebelumwaberten Tiber. »Der Mann, der eben bei dir war, dein letzter … Wer war das?«
Margheritas Kleid raschelte heran. Sie legte eine Wange zwischen seine Schulterblätter. Das machte sie immer, wenn er bockig war und sie ihn für sich einzunehmen versuchte. Eine Demutsgeste, mit der sie sich ihre Macht über ihn sicherte. Sich unterwerfen, um zu beherrschen – niemand verstand sich so gut auf diese Kunst wie Margherita.
»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?« Sie klang, als könne es nichts Schöneres für sie geben.
»Sag mir einfach, wer es war.«
Margherita steckte sich eine weitere Feige in den Mund. »Nicht halb so süß wie du«, stellte sie fest. Endlich löste sie sich von ihm. »Der Künstler, ich hab dir von ihm erzählt. Netter Kerl. Reist ständig nach Florenz und bringt mir hübsche, kleine Geschenke mit.«
»Hat er dir nie erzählt, woran er arbeitet?«
»Interessiert mich so etwas?« Sie dachte kurz nach. »Kennst du ihn etwa?«
Aurelio überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass Granacci Michelangelos engster Freund und Vertrauter war und er ihn seit anderthalb Jahren aus der Bottega kannte. Dass sie sogar eine Art Freundschaft verband, sie gemeinsam teilhatten an der Entstehung des größten Kunstwerks der Menschheit. Doch es hätte Margherita nichts bedeutet. Und wenn schon, hätte sie geantwortet und bei nächster Gelegenheit Granacci davon berichtet, der Aurelio bis zum Ende ihrer gemeinsamen Arbeit mit einem wissenden Grinsen begrüßt oder, schlimmer noch, vor Michelangelo und Piero bloßgestellt hätte. Andere in Verlegenheit zu bringen war etwas, das Granacci großes Vergnügen bereitete. Aurelio hörte im Geiste bereits seine Stimme: »Wie geht es unserer Kurtisane?« »Hat sie sich von deinem gestrigen Besuch schon erholt?« »Wer ist heute dran, du oder ich? Lass uns würfeln!«
»Nein, ich kenne ihn nicht.«
Margherita wand sich gekonnt um Aurelios Körper und tauchte plötzlich zwischen ihm und dem Fenster auf. »Was immer es da draußen zu sehen gibt: Es kann nicht halb so spannend sein wie das, was dich nebenan erwartet.« Mit diesen Worten zog sie ihn ins Schlafgemach.
Krampfhaft versuchte Aurelio, das Bild von Granacci abzuschütteln, der keine Stunde zuvor an derselben Stelle auf derselben Frau gelegen hatte. Jedenfalls in seiner Vorstellung. Alles fühlte sich falsch an: die Matratze, in die er einsank wie in den Schlamm am Tiberufer, der säuerliche Geruch seines Vorgängers, der Wein, den Granacci nicht ausgetrunken und den Margherita jetzt ihm vorgesetzt hatte, sogar ihr Körper, der sich weich und warm an ihn schmiegte. Zu weich und zu warm. Fühlte er sich bei dem Gedanken an Aphrodite wie ein Ertinkender, so glaubte er, zwischen den Decken Margheritas ersticken zu müssen.
Vergeblich versuchte Margherita, die Leidenschaft ihres Geliebten zu wecken. Doch es regte sich nichts. Je beherzter sie zu Werke ging, desto unmöglicher erschien es Aurelio, sich heute noch so weit zu bringen, dass er in sie eindringen könnte. Nicht einmal der Gedanke an Aphrodite half: Er machte nur, dass Aurelio zugleich ertrank und erstickte.
Margherita, die zwischen seinen Beinen kniete, blickte zu ihm auf, als habe sie Aurelio ein grausames Geständnis entrissen. So etwas war ihr noch nie vorgekommen.
»Es tut mir leid.
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