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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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kleine Kapelle gegangen. So schön die Statue auch war, sosehr ihn ihr Anblick ergriffen hatte: Die Bereitschaft der Mutter Gottes, sich in ihr Schicksal zu fügen, hatte Aurelio zu sehr an die seiner eigenen Mutter erinnert, damals, als sie ihn das letzte Mal angeblickt hatte. Die Statue hätte Aurelio zwangsläufig auf seine eigene Schuld zurückgeworfen, und dem hatte er sich nicht gewachsen gefühlt – bis jetzt. Heute jedoch würde er sich allem stellen: seiner Schuld, seinen Begierden, Missgunst, Eifersucht, Habgier … All den Gefühlen, die er nie gekannt hatte – bis er nach Rom gekommen war.
    Das Tor war verschlossen. Nicht einmal Wachen hatte man davor postiert. Bei dem kleineren Tor, das direkt zu dem kolonnadenumsäumten Kirchenvorplatz führte, war es dasselbe. Auf sein Klopfen hin wurde eine Luke geöffnet.
    Das mürrische Gesicht eines Schweizergardisten schob sich hinter die Öffnung: »Was willst du?«
    »Ich gehöre der Bottega von Michelangelo Buon…«
    »Ich weiß, wer du bist«, schnitt ihm die Wache das Wort ab. »Was willst du?«
    »In die Kirche«, antwortete Aurelio.
    »In die käme heute Nacht nicht einmal Petrus persönlich hinein. Der Papst hat Anweisung gegeben, alle Pforten zum Vatikan geschlossen zu halten und niemanden einzulassen.«
    »Aber weshalb?«
    »König Ludwig.«
    Aurelio erschrak: »Die Franzosen kommen?«
    »Nicht, dass ich wüsste. Aber Julius hatte eine Vision – eine göttliche Eingebung.«
    »Er hatte die Eingebung, den Vatikan verriegeln zu lassen?«
    »Er hatte eine Eingebung. Mehr weiß auch ich nicht. Komm morgen wieder.«
    Mit diesen Worten schloss sich die Luke.
    Aurelio stieg die Stufen zum Platz hinab und sog die kühle Nachtluft ein. Er würde seine Antworten ohne den Beistand der Mutter Gottes suchen müssen. Mitten auf den Stufen hielt er inne und ließ seinen Blick über den menschenleeren Platz schweifen. Hier hatte er zum ersten Mal mit seinem Meister gesprochen. Am selben Tag noch hatte ihn Michelangelo in seine Dienste aufgenommen. Vom Tiber kommend, schob sich ein dichter Nebel die Gassen zum Vatikan hinauf. Die Engelsburg war bereits vollständig eingehüllt. Keine Stunde, und man würde vom einen Ende des Platzes das andere nicht mehr sehen. Dem Nebel ging ein feuchter Wind voraus, der, aus verschiedenen Richtungen kommend, sich auf dem Platz vereinigte und die Stufen zu Sankt Peter hinaufblies. Aurelio fror. Doch er wollte nicht nach Hause, nicht in seine Kammer. Dort würde er nicht zur Ruhe kommen.
    Der Platz schien ihm verändert. Vielleicht war es nur die Kälte oder der Umstand, dass er so verlassen vor ihm lag. Noch immer beherrschten die Dutzende weißer Marmorblöcke, aus denen Michelangelo das Julius-Grabmal hatte erschaffen wollen, das Zentrum. Und noch immer erweckte ihr Anblick bei Aurelio die Vorstellung, es seien die Zähne Gottes. Er stieg die restlichen Stufen hinab und ging zu den Steinquadern hinüber. Der Regen und die Sonne hatten den Marmor stumpf werden lassen und trüb – wie Tommasos Augen, bevor er gestorben war. Stück für Stück holte sich die Erde zurück, was Michelangelo ihr entrissen hatte. Bald würde der nächste Winter Einzug halten, und auch diesem wären die Blöcke schutzlos ausgeliefert. Aurelio setzte sich auf einen der äußeren Quader. Er spürte die Kälte des Steins durch den Stoff seiner Hose hindurch.
    Kaum hatte er sich niedergelassen, trottete erneut der Hund heran. »Ich habe noch immer nichts für dich«, sagte Aurelio.
    Der Hund, dem ein halbes Ohr fehlte und dessen Haut auf dem Rücken durch das Fell schimmerte, beschnupperte kurz Aurelios Bauernschuhe, kreiste zweimal um sich selbst und rollte sich schließlich neben ihm zusammen.
    »Du hast es gut«, überlegte Aurelio, »bis du aufwachst, hast du mich für immer vergessen.«
    * * *
    So plötzlich der Sommer gekommen war, so schnell war er gegangen. Wochen-, ja monatelang hatte Aurelio auf ein Zeichen gelauert, durch das sein Meister sich verraten würde. Doch er hatte sich durch nichts zu erkennen gegeben. Natürlich ahnte Aurelio, dass Michelangelo insgeheim des Nachts an den Entwürfen für die Statue arbeitete, aber wirklich sicher sein konnte er sich nicht. Gelegentlich befiel ihn der Gedanke, sein Meister könne das Projekt aufgegeben haben. Dann musste er sich erst wieder die Nächte hinter dem Wandbehang in Erinnerung rufen, die Leidenschaft und Besessenheit seines Meisters spüren, um zu wissen: Nichts würde ihn von diesem

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