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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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war außer sich. Er reckte seinen Kopf vor und vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war.
    »Richtet wem-auch-immer aus, dass sie das fertige Werk in Augenschein nehmen kann, wenn ich es für vollendet erkläre«, zischte er, »keinen Tag früher. Und richtet ihr ebenfalls aus, dass, wenn ihr beide noch einmal die Schwelle dieses Hause betretet, es kein Werk geben wird.«
    Die Arbeit am Fresko indessen ging zügig voran – trotz der heißen Monate, in denen bereits das Atmen unter dem Gewölbe zum Kraftakt wurde, sich die Pigmente von selbst verflüssigten und die Farben ständig ineinanderzulaufen drohten. Gelegentlich ließ Michelangelo die Arbeit in der Kapelle für einen Tag ruhen, um sich mit Aurelio im Atelier einzuschließen. Dann stand ihm sein Gehilfe gleich für drei oder vier Figuren Modell, auf Vorrat.
    Sein Meister skizzierte alle Figuren, auch die Bekleideten, zunächst nackt. Erst in einem zweiten Arbeitsgang hüllte er sie in Kleider. Anfangs hatte Aurelio sich über diese umständliche Praxis gewundert, doch Michelangelo hatte ihm erklärt, dass die Figuren nur so später von wirklichem Leben erfüllt sein würden. Nachdem Aurelio ihm einige Male dabei zugesehen hatte, verstand er es: Nur dann spürte man den Körper unter dem Gewand, wenn sich tatsächlich einer darunter verbarg.
    Auch für die weiblichen Figuren stand Aurelio seinem Meister Modell. Michelangelo wollte keine Frauen in seinem Atelier. Sollte Raffael sich mit ihnen herumschlagen. Diese Fleischlichkeit, diese gebärende Weichheit – wer um alles in der Welt konnte das schön finden? Lieber sollten die für das Fresko vorgesehenen Sibyllen später wie in einem fremden Körper gefangen wirken, als dass Michelangelo ihnen die teigige Schwere des weiblichen Körpers zugemutet hätte. Wenn, wie im Falle der Eva, kein Weg daran vorbeiführte, auch Studien am weiblichen Körper vorzunehmen, oder er einen gealterten Mann brauchte, dann begab sich Michelangelo abends heimlich in die Unterwelt, die Badehäuser der Stadt. Hier fand er alles, was Aurelio nicht war.
    Natürlich wurden einige der unterirdischen Dampfbäder nach wie vor zu medizinischen Zwecken betrieben. Die meisten von ihnen hatten sich jedoch längst in Treffpunkte für Huren verwandelt, und nicht selten wurden die Freier direkt an Ort und Stelle bedient. Vor einiger Zeit hatte Michelangelo seinen Gehilfen auf eine seiner »anatomischen Exkursionen« mitgenommen, ihm schwitzende alte Männer gezeigt, die mit vor Anstrengung entstellten Gesichtern in nebeligen Ecken mit gebückt stehenden Frauen kopulierten. Nichts von dem, was Aurelio bei ihrem Rundgang zu Gesicht bekam, hatte etwas Vergnügliches oder Zärtliches an sich gehabt. Für die meisten schien es einfach nur harte Arbeit zu sein. Am Ende war Aurelio vor allem erschöpft und etwas angewidert gewesen. Michelangelo indessen war von dem tierischen Ringen fasziniert. Auch ihn ekelte der Anblick, zugleich jedoch bereitete ihm sein eigener Ekel einen sonderbaren Genuss.
    * * *
    Knapp ein Drittel des Gewölbes war fertiggestellt, als Michelangelo zum ersten Mal einem Außenstehenden einen Blick auf das Fresko gewährte. Mehr noch: Er lud ihn ein, auf das Gerüst zu steigen. Dieser Mann nannte sich Desiderius Erasmus und stammte aus Rotterdam. Michelangelo war ihm bereits in Bologna begegnet, als er dort nach Julius’ Feldzug in fünfzehnmonatiger Arbeit die riesige Bronzefigur fertigte, die seither über dem Portal der Basilica di San Petronio thronte und jeden Kirchgänger daran erinnerte, wem die Herrschaft über diese Stadt gebührte.
    Erasmus weilte als Gast im Palast des Kardinals Riario, der ihm davon berichtet hatte, dass die Fresken Michelangelos bereits jetzt, da sie erst im Entstehen begriffen waren und niemand ihrer bislang ansichtig geworden war, als neues Wunder Roms gehandelt wurden. Also suchte Erasmus den Künstler kurzerhand in der Kapelle auf. Aus der Begrüßung Michelangelos sprach höchster Respekt, wenn nicht gar Verehrung für den Gelehrten.
    »Vielen gilt er als der klügste Kopf Europas«, raunte Piero Aurelio zu, »und er missbilligt den Papst.«
    Da sein Meister ihn so ungern von seiner Seite ließ, hatte Aurelio in den anderthalb Jahren, die er jetzt in Rom war, reichlich Gelegenheit gehabt, hochstehende Persönlichkeiten aus nächster Nähe zu erleben. Nach seiner Erfahrung teilten sie sich alle in zwei Arten von Menschen: Die einen ließen sich durch Ruhm, Macht, und Reichtum zu

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