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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Übermut und Eitelkeit verführen. Zu ihnen zählten Papst Julius und Bramante. Die anderen, unter ihnen Sangallo, hatte ihr Erfolg Demut und Bescheidenheit gelehrt.
    Inzwischen hatte Aurelio Übung darin zu erkennen, welchem der beiden Lager eine Person zuzurechnen war. Bei Erasmus von Rotterdam genügte ihm ein flüchtiger Blick: Demut und Bescheidenheit. Seine Haltung, die mitfühlenden Augen, der dezente Aufzug – alles an ihm zeugte davon. Selbst seine überaus prominente und spitz zulaufende Nase, die in einem anderen Gesicht arrogant gewirkt hätte, unterstrich bei ihm nur seine Nachdenklichkeit.
    Plötzlich sagte Michelangelo: »Es wäre mir eine Ehre, Euch meine Arbeit zu zeigen.«
    Rosselli und Aurelio sahen sich verwundert an, und auch Erasmus war offensichtlich überrascht. Wie Papst Julius, so hatte auch sein Neffe, Kardinal Riario, Michelangelo bereits mehrfach zu überreden versucht, ihm einen Blick auf die unfertigen Fresken zu gewähren. Zweifellos hatte er Erasmus dahingehend instruiert, dass auch er sich keinerlei Hoffnung darauf machen dürfe, die Arbeiten des Künstlers gezeigt zu bekommen.
    »Und mir wäre es eine Ehre, sie in Augenschein zu nehmen«, antwortete Erasmus und folgte Michelangelo behände die Sprossen hinauf.
    Michelangelo, Rosselli und Aurelio standen auf der Arbeitsbühne und verfolgten gebannt, wie Erasmus mit in den Nacken gelegtem Kopf unter dem Gewölbe umherging. Es war das erste Mal, dass ein Außenstehender sein Urteil abgeben würde. Michelangelo kratzte mit dem rechten Daumen über die linke Handfläche, dann mit zwei Fingern über die rechte Handfläche, dann mit vier Fingern über den linken Handrücken.
    Erasmus jedoch war weit davon entfernt, ein Urteil abzugeben. Unter der Delphischen Sibylle mit ihrem jugendlichen Gesicht und den angstgeweiteten Augen setzte er ein Knie auf den Boden und bekreuzigte sich.
    Zum Abschied nahm er er Michelangelos Hände in seine: »Ich danke Euch, Maestro Buonarroti. Und ich bete zu Gott, dass er mir die Gnade gewähren möge, eines Tages das vollendete Fresko in Augenschein zu nehmen.«
    Michelangelo tat etwas, das er in Gegenwart des Papstes noch nie gemacht hatte: Er verneigte sich ehrfürchtig. Soeben hatte er von höchster Stelle den Segen für sein Werk erhalten.
    Später entrollte er auf Erasmus’ Wunsch hin den Gesamtentwurf und erklärte ihm, welche Szenen er für den Deckenspiegel und welche Propheten und Sibyllen er für die Flächen zwischen den Spandrillen vorgesehen hatte. Dort, wo die Cumäische Sibylle ihren Platz finden sollte – als Dritte in der Reihe nach der Delphischen Sibylle und Jesaja –, war bislang nur der grobe Umriss einer Figur zu sehen.
    »Sie scheint Euch Rätsel aufzugeben«, stellte Erasmus fest.
    Es stimmte. Je weiter Michelangelo sich mit dem Fresko zu der Stelle vorarbeitete, an der die Cumäische Sibylle ihren Platz finden sollte, desto drängender wurde die Frage, wie er sie gestalten sollte.
    Egidio da Viterbo, führender Hoftheologe des Papstes, hatte Michelangelo gedrängt, die Cumäische Sibylle mit allen einem Künstler seines Ranges zur Verfügung stehenden Mitteln zu verherrlichen. Der Betrachter, so forderte es da Viterbo, solle bei ihrem Anblick sofort daran erinnert werden, dass sie es gewesen sei, die die Geburt Julius II. vorausgesehen habe und mit ihr den Beginn eines neuen, goldenen Zeitalters. Damit bezog sich der Theologe auf eine Weissagung der Sibylle, wonach ein Kind geboren werde, dass der Welt Frieden bringen und sie in ein goldenes Zeitalter zurückführen werde.
    Michelangelo konnte da Viterbo ebensowenig ausstehen wie de’ Grassi. Wenn man die beiden in einen Sack stecken und mit einem Knüppel darauf einschlagen würde, träfe es nie den falschen. Und wie der Theologe auf die Idee verfallen konnte, dass es sich bei dem Kind aus der Prophezeihung ausgerechnet um Julius handeln müsse, war dem Künstler gänzlich unbegreiflich.
    »Da Viterbo möchte die Cumäische Sibylle in äußerster Verherrlichung dargestellt wissen«, erklärte Michelangelo. Sein Tonfall ließ durchklingen, wie unwohl ihm dabei war. »Er ist davon überzeugt, dass sie Julius’ Geburt vorausgesagt hat und das Schicksal des Heiligen Vaters als Heilsbringer der Menschheit auf das Engste mit ihr verknüpft ist.«
    »›Und über die Erde leuchte das goldene Zeitalter …‹«, zitierte Erasmus nachdenklich. »Da Viterbos Deutung dieser Prohezeihung ist mir bekannt.« Er lächelte

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