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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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vorgesehen hatte.

Teil V
    XXXIX
    Februar 1510
    Michelangelo presste die Handflächen gegen die Schläfen. »Zieh dir ruhig die Kohlenpfanne heran.«
    Er kam nicht weiter. Der Druck war zu groß. Er stand auf, legte das Skizzenbuch auf den Stuhl und begann, mit nach vorne geneigtem Kopf das Atelier abzuschreiten, das richtige Licht zu suchen, die eine Linie zu finden, die Bewegung, die alles in sich einschließen würde: Sehnsucht, Hingabe, das Wissen um die eigene Vergänglichkeit.
    Aurelio ging in die Ecke hinüber. Unter lautem Quietschen zog er das dreibeinige, schmiedeeiserne Gestell mit der Pfanne in die Mitte des Raumes. Dankbar rieb er die Hände über der Glut. Seit zwei Tagen schon hatte er kaum noch Gefühl in den Fingern.
    »Kann ich mir etwas anziehen?«, bat er.
    »Nein«, antwortete Michelangelo, in den Anblick seines nackten Gehilfen versunken.
    In dieser Stadt war kein Künstler, den Michelangelo als echten Konkurrenten angesehen hätte. Mit Ausnahme von Raffael. Und der hatte soeben das Erste der vier geplanten Fresken in Julius’ Studierzimmer vollendet: die Disputa. Der Papst war entzückt, und Giuliano da Sangallo, der eingeladen worden war, einen Blick darauf zu werfen, hatte eine Skizze der Komposition für Michelangelo angefertigt. Er sprach von einer »ganz außergewöhnlichen Arbeit«. Auch Michelangelo war eingeladen worden, Raffaels Werk in Augenschein zu nehmen, was der Bildhauer selbstredend abgelehnt hatte. Einer solchen Einladung zu folgen, noch dazu in aller Öffentlichkeit, wäre einem Eingeständnis gleichgekommen.
    Michelangelo kannte seinen Freund Sangallo gut genug, um zu wissen, was es bedeutete, wenn der die Disputa als eine »ganz außergewöhnliche Arbeit« bezeichnete: Raffaels Fresko war überragend, einzigartig, neu. Michelangelo würde sich steigern, sich selbst übertreffen müssen, noch überzeugendere Lösungen finden, noch eindrucksvollere Figuren schaffen müssen. Die wichtigste von allen: der Adam. Noch trennte ihn eine weiße Fläche von zweihundertfünfzig Quadratfuß von dem Paneel, das die Erschaffung des ersten Menschen zeigen sollte, doch bereits jetzt ließ ihm das Motiv keine Ruhe mehr. Also hatte er Aurelio in den letzten Tagen alle nur denkbaren Verrenkungen vollführen lassen.
    Er ging zu dem Bett hinüber, das nicht mehr benutzt worden war, seit Giuliano und Agnolo die Bottega verlassen hatten, nahm die zusammengefaltete Decke aus Pferdehaar und breitete sie zu Füßen Aurelios aus. »Versuchen wir es im Liegen«, sagte er.
    Aurelio rieb sich mit den angewärmten Handflächen über die Unterarme und setzte sich auf die Decke, die, wenn es kalt und die Luft feucht war, immer ein bisschen nach Stall roch und ihn an zu Hause erinnerte – an den Tag, als er ihren Stall in Forlì niedergebrannt hatte, vor zwei Jahren, in einem anderen Leben, weit, weit weg von Rom.
    Michelangelo hielt inne, betrachtete nachdenklich den in Gedanken versunkenen Gehilfen, ging vorsichtig zu seinem Stuhl und trug ihn zu Aurelio hinüber. Lautlos nahm er ein neues Skizzenblatt vor. »Wenigstens das Gesicht hab ich schon«, flüsterte er.
    Aurelio hörte ihn nicht einmal.
    * * *
    Für Michelangelo war das Jahr mit den üblichen Sorgen und Nöten zu Ende gegangen. Fortwährenden Verdruss bereitete ihm seine Familie. Und die tat ihr Bestes, seinen Sorgenfluss nicht abreißen zu lassen. Wann immer Michelangelo einen Brief von seiner Bank mitbrachte, wo die Post aus Florenz für ihn hinterlegt wurde, ging eine Anspannung durch seinen Körper. Doch kaum hatte er ihn gelesen, sank er in sich zusammen.
    Sein Vater Lodovico, der ihn verstoßen hatte, nachdem er hatte einsehen müssen, dass keine Macht der Welt Michelangelo davon abhalten würde, Künstler zu werden (Bildhauer noch dazu!), um sich selbst sowie das Ansehen der Familie mit Marmorstaub zu besudeln – jetzt stürtzte er sich plötzlich auf ihn und legte das Schicksal der gesamten Familie in seine Hände. Ebenso erging es Michelangelo mit seinen Brüdern. Alle verließen sich darauf, dass er es für sie richten würde. Am schlimmsten war Giovan Simone. Je erfolgreicher und berühmter Michelangelo wurde, je mehr Arbeit er sich aufhalste, umso untätiger wurde sein kleiner Bruder.
    Aurelio wurde das Herz schwer, seinen Meister unter der Last der eigenen Familie in die Knie sinken zu sehen. Er hatte Familie immer als etwas erlebt, das einen aufrichtete und einem Halt gab. Sicher hätte sein Meister ohne diesen Vater und diese

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