Der Sixtinische Himmel
gestanden beziehungsweise gelegen hatte, war seinem Hals wie eingeschrieben. Jetzt war das vierte der insgesamt neun Paneele, die am Ende den Deckenspiegel füllen sollten, vollendet.
In nur zwei Wochen – einem Drittel der Zeit, die er auf die Sintflut verwandt hatte – hatte Michelangelo die Szene fertiggestellt. Und das, obgleich er nahezu jeden Abend aus dem Haus geschlichen war, um in der Verschwiegenheit der Nacht an der Statue zu arbeiten. Als befriedige es ihn auf widernatürliche Weise, sich nach der Zwangspause der Wintermonate jeden Tag aufs Neue bis an den Rand der Erschöpfung zu quälen, sich seiner Kunst zum Opfer zu bringen. Gelegentlich, wenn sie auf der Arbeitsbühne standen und Piero und er Michelangelo stützen mussten, damit er weiterhin die Farben in den Intonaco einbringen konnte, dachte Aurelio, dass sein Meister, an dem Tag, da er beides vollendet hätte – die Statue sowie das Fresko –, sterben würde. Dass mit der Fertigstellung dieser beiden Werke alles Leben, das er zu geben hatte, in seine Kunst eingeflossen sein und seinen Körper als leblose Hülle zurücklassen würde.
* * *
»Du lässt wahrlich keine Gelegenheit ungenutzt, die Hunde des Herren gegen dich aufzubringen«, hatte Piero bemerkt, als Michelangelo ihnen den fertigen Entwurf für die Szene vorlegt hatte.
»Was ist dagegen einzuwenden, Erbsünde und Vertreibung in einem Bild zusammenzufassen? Nur weil Ursache und Wirkung in der Bibel getr…«
»Du weißt, was ich meine«, schnitt ihm Piero das Wort ab.
Michelangelo blickte seinen Freund an wie ein aufsässiger Schüler. »Die Darstellung von Adam und Eva?«
»Manchmal glaube ich, jeder zusätzliche Feind ist eine Genugtuung für dich.«
»Der Papst hat mir bei der Gestaltung des Freskos freie Hand gegeben«, rechtfertigte sich Michelangelo.
Dabei entglitt seinen Lippen eine Bewegung, die Aurelio als Schmunzeln zu deuten wusste. In Wahrheit, das wussten sie alle, hatte Piero natürlich recht: Jede Gegnerschaft bestätigte Michelangelo in seinem Selbstbild.
»Freie Hand ja«, erwiderte Piero, »nicht aber freien Geist.«
Michelangelo beendete das Gespräch mit einer Geste, die jeden weiteren Einwand zu einer kleingeistigen Nichtigkeit erklärte.
Natürlich meinte Piero die Darstellung von Adam und Eva. Die Dominikaner – domini canes , Hunde des Herren, genannt – würden gegen Michelangelos Bibelinterpretation Sturm laufen. Die Frau trug die Schuld am Sündenfall. So stand es in der Bibel. Sie war den Versprechungen der Schlange erlegen, hatte von der verbotenen Frucht gekostet und schließlich ihren Mann dazu überredet, es ihr gleichzutun. In Michelangelos Version dieser Szene jedoch machte sich Adam mindestens im selben Maße schuldig wie seine Frau. Während nämlich Eva den falschen Versprechungen der Schlange erlag, musste Adam erst gar nicht überredet werden. Statt sich die verbotene Frucht von der Schlange reichen zu lassen, reckte er sich selbst, um an sie zu gelangen. Und als sei diese Auslegung nicht bereits Provokation genug, brachte Michelangelo den Sündenfall auch noch unübersehbar mit der fleischlichen Begierde in Verbindung, indem er Eva in einer Pose darstellte, die nicht viel Phantasie erforderte, um dahinter eine erotische Handlung zu erblicken. Seitlich aufgestützt lag sie mit angezogenen Beinen zu Füßen Adams, Oberkörper und Kopf nach hinten gedreht, den Arm ausgestreckt. Genaugenommen sah es aus, als sei sie gerade von der Schlange bei einer Fellatio unterbrochen worden. Erotik und Sünde – für Michelangelo schien beides denselben Ursprung zu haben. Oder, gewagter noch: Die Ursünde war körperlicher Gier entsprungen, eine Folge unkontrollierter, tierischer Triebe.
* * *
Am Morgen hatte sich der Schmerz in Aurelios Nacken nicht nur festgesetzt, sondern zudem Wurzeln in seinen Hinterkopf getrieben. Als er aufstand, gaben kurz seine Beine nach. Die Arbeit der letzten Wochen schien ihn ausgelaugt zu haben.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Rosselli, als er ihm wie jeden Morgen seinen Getreidebrei vorsetzte.
Aurelio blickte ihn aus verschleierten Augen an. »Wird schon gehen«, sagte er, führte den Löffel zum Mund und hätte den Brei beinahe wieder ausgespuckt, der bitter schmeckte und wie ein Klumpen Erde auf seiner Zunge lag. Widerwillig rang er ihn die Speiseröhre hinab. »Was ist das?«, fragte er.
»Was meinst du?«
Aurelio starrte auf seine Schale, als tummelten sich Kaulquappen darin. Dann schob er sie
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