Der Sixtinische Himmel
entgegnete Michelangelo, »man sieht es nur noch nicht. Hier«, er zeigte seinem Gehilfen einen imaginären Punkt, der direkt unter der Oberfläche des Steins lag, »das ist ihr Ellenbogen. Und hier hinten, sieh her!, hier wölbt sich ihre Hüfte bis an die Kante … Damit werde ich beginnen – mit ihrer Hüfte.«
In all den Nächten, in denen Michelangelo heimlich aus dem Haus geschlichen war, hatte er nichts anderes getan, als sich in diesen Block zu versenken? Aurelio dachte an die Worte seines Meisters zurück, als sie in der halb abgerissenen Kapelle der alten Peterskirche vor der Pietà gestanden und Aurelio ihn gefragt hatte, wie er auf die Idee gekommen war, Maria und ihren Sohn ausgerechnet in dieser Haltung darzustellen. Eine Idee müsse zu sich selbst finden, hatte Michelangelo damals erklärt, und dass die Pflicht des Künstlers darin bestehe, sich in einen Zustand zu versetzen, der dies ermögliche. Nun, Aphrodite hatte einen ganzen Winter benötigt, um zu sich zu finden. Jetzt brannte sie vor Ungeduld.
»Ich wünschte, ich könnte sehen, was Ihr seht, Maestro. Ich kann die Gravitation des Steins spüren, seine Kraft. Doch sehen kann ich nur einen großen, weißen Marmorblock.«
Michelangelo ließ seine feingliedrigen Finger über die noch spröde, abweisende Kante gleiten. »Mit der Pietà hab ich die Tür aufgestoßen«, flüsterte er dem Stein zu, »mit dem David meinen Platz eingenommen. Du aber wirst mein Vermächtnis sein.« Widerstrebend lösten sich seine Finger vom Marmor, und er richtete den Blick zur Decke. »Verzeiht mir, Herr. Am Ende ist es doch nur wieder die Eitelkeit, die den Sieg davonträgt.«
Aurelio hatte das Gefühl, seinen Meister nicht aus den Gedanken reißen zu dürfen.
»Du siehst also nichts weiter als einen großen, weißen Marmorblock«, nahm Michelangelo den Faden wieder auf. »Nun: Jetzt, da du mein Geheimnis gelüftet hast, ist wohl nichts dagegen einzuwenden, wenn ich deiner Vorstellungskraft etwas auf die Sprünge helfe.« Er wandte sich von der Säule ab und ging, eingehüllt in das matte Licht seiner Laterne, zum Tisch. »Komm her«, sagte er, schlug seine Ledermappe auf, entnahm ihr die Skizzen für den Adam und zog aus dem in die Naht eingearbeiteten Geheimfach einen vierfach gefalteten Bogen, den er vorsichtig ausbreitete.
Die Zeichnung war im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar. Sie zeigte Aphrodite, so wie Michelangelo sie bei ihrer letzten Sitzung eingefangen hatte: in dem Moment, da Wille und Vernunft sich dem Ansturm der Begierde geschlagen geben mussten. Und doch wieder war sie es nicht. Denn Michelangelo hatte ihren entblößten Körper unter einem transparenten, schwebend leichten Schleier verborgen, hatte sie zu einer Allegorie überhöht, ohne ihr die Sinnlichkeit zu nehmen. Aus der Kurtisane des Papstes war die Göttin der Liebe geworden.
»Fragt mich bitte nicht, was ich sehe, Meister«, bat Aurelio. »Ich hätte keine Worte, es zu beschreiben. Ich weiß nicht einmal, ob ich die Gefühle habe, es zu fühlen.« Er versuchte, seinen Blick abzuwenden, doch Aphrodite hielt ihn fest. Plötzlich traf ihn eine Erkenntnis. »Sie ist gefährlich. Niemand wird sie betrachten können, ohne seinen eigenen Abgrund zu erblicken. Die Menschen werden sich vor ihr schützen wollen.«
»Du meinst, so wie sie sich vor dem Teufel zu schützen versuchen? Das wäre ihr endgültiger Triumph.«
Aurelio studierte die Zeichnung genauer. Michelangelos Vorgehen glich dem für die Figuren des Freskos in der Sistina: Er hatte Aphrodite zunächst nackt gezeichnet und erst anschließend den Schleier über ihren Körper gesenkt. Doch wie sollte er sie auf diese Weise in Stein meißeln?
»Ich verstehe es nicht«, sagte Aurelio.
»Was?«
»Den Schleier. Wie könnt Ihr erst ihren Körper aus dem Marmor formen und ihn dann unter einen Schleier gleiten lassen, der noch dazu leicht ist wie feine Seide und durchsichtig wie Gaze?«
»Ich werde im Geiste ihren nackten Körper aus dem Block befreien und anschließend den Schleier über ihn breiten. Wenn das getan ist, muss ich nur noch den überschüssigen Marmor abtragen.«
Aurelio drehte sich zur Säule um. Ein Stein von mindestens einem Dutzend Doppelzentner Gewicht, und der sollte sich in feinste Gaze verwandeln und über einen nackten Körper legen?
»Gewährt mir eine letzte Frage, Meister.«
Behutsam faltete Michelangelo die Zeichnung zusammen.
»Wie konntet Ihr Aphrodites Verlockungen widerstehen?«
Der Bildhauer
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