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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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aus. »Komm rein.«

XLI
Durch dich erst kenn’ ich mich und aus der Ferne
Streb’ ich dem Himmel zu, von dem wir kamen,
Und wie der Fisch geködert wird vom Hamen,
Reichst du mir Speise, und ich komme gerne.
Nur schwach kann ein geteiltes Herze schlagen,
Drum gab ich dir das meine ganz und gar:
Was von mir bleibt, du weißt es, der mich kennt!
Ans Beste nur soll sich die Seele wagen,
Drum muss ich heiß dich lieben, will ich leben!
Denn ich bin Holz nur, du bist Holz, das brennt.
Michelangelo Buonarroti
    Als Michelangelo das schwarze Tuch von der Säule zog und Aurelio seine begabten Hände an den Marmorblock legte, spürte er erstmals die Tragweite dessen, was in diesem heruntergekommenen, nach Schimmel und Katzenpisse stinkenden Schuppen geschehen würde. Die Säule überragte ihn um gut zwei Fuß. Bereits jetzt, ohne eine erkennbare Gestalt angenommen zu haben, dominierte sie den Raum, hätte sie am liebsten die Wände zum Einsturz gebracht und das Dach durchbrochen. Sie wollte Licht, Bewunderung, einen Platz, so groß wie die Piazza Scossacavalli, mindestens. Das wäre ein guter Ort, ging es Aurelio durch den Kopf. Der Platz, an dem sowohl die göttliche Imperia ihren Palazzo bewohnte als auch Raffael seinen Wohnsitz hatte. Und vom Eckzimmer seines Palastes aus müsste Julius jeden Morgen mit ansehen, wie die Statue seiner angebeteten Kurtisane in der aufgehenden Sonne zu leuchten begann. Jeder, der von der Engelsburg kommend in den Vatikan hinaufging, würde sich demütig vor ihr verneigen.
    »Wenn Julius von Eurem Vorhaben Kenntnis erhielte«, setzte Aurelio an, »würde er Euch augenblicklich zum Campo de’ Fiori schleifen und aufknüpfen lassen.«
    »Den Papst bräuchte es gar nicht, Aurelio. De’ Grassi genügte bereits oder Egidio da Viterbo oder irgendeiner der tausend päpstlichen Spitzel, die an jeder Ecke herumlungern.« Seine Nase stieß ein verächtliches Pfeifen aus. »Mein Leben hängt an einem seidenen Faden«, schloss er, nicht ohne eine gewisse Genugtuung, wie sein Gehilfe bemerkte.
    Während Aurelio sich an der Kohlenpfanne wärmte, breitete sein Meister dessen Kleidung auf der Bank aus, der einzigen Sitzgelegenheit, abgesehen von zwei morschen Holzschemeln. Sonst gab es nur einen kleinen Tisch, auf dem verschiedene Werkzeuge aufgereiht lagen.
    »Habt Ihr keine Angst, es könnte Euch jemand auf die Schliche kommen?«, fragte Aurelio. »Selbst mir ist es gelungen, Euer Versteck zu entdecken. Ihr seid ein stadtbekannter Mann. Es wird nicht auf Dauer unbemerkt bleiben, dass Ihr nachts am Hafen herumschleicht.«
    »Aurelio«, setzte Michelangelo an. Er klang müde – wie immer, wenn er jemandem etwas erklären sollte. »Die meisten Menschen halten mich für einen knorrigen, verwirrten Misanthropen, wenn nicht gar für verrückt.« Während er sprach, behielt der Bildhauer die ganze Zeit über seine Säule im Blick. »Vielleicht stimmt es sogar«, überlegte er, »das mit dem Misanthropen, meine ich. Verrückt … Nein, verrückt wäre ich Gott vollkommen nutzlos. In jedem Fall wird man sich lediglich in dieser Ansicht bestätigt sehen, falls mich jemand bei Nacht an der Ripetta herumschleichen sieht. Und du, mein lieber Aurelio, hast mein Versteck nur deshalb entdeckt, weil du bereits wusstest, wonach du suchst. Der Mensch findet immer nur das, wonach er sucht. Für alles andere ist er blind.«  
    Langsam führte er seinen Gehilfen um den Block herum, hielt die Laterne von hinten an den Stein, demonstrierte im Gegenlicht die Gleichmäßigkeit der Struktur. »Kein Einschluss, keine Ader, nicht die geringste Unregelmäßigkeit.« Er suchte die Kanten ab, als müsse er sich selbst überzeugen. Dabei war ihm der Block vertrauter als sein eigener Körper. »Einen wie den gibt es kein zweites Mal auf der Welt«, überlegte er. »Jemand, der weiß, was alles zusammenkommen muss, damit Marmor überhaupt entstehen kann, dem fällt es schwer zu glauben, dass Gott nicht persönlich seine schützende Hand über diesen Block gehalten hat.«
    Aurelio wunderte sich darüber, dass der Block bislang kaum Spuren der Bearbeitung aufwies. Michelangelo hatte noch nicht einmal richtig mit dem Bossieren, dem groben Behauen, begonnen. Lediglich einige Überstände und Kanten waren, wie um die Werkzeuge zu testen, mit einem Zahneisen entfernt worden. Als wage sein Meister nicht, seine Schale aufzubrechen.
    »Ihr habt mit der eigentlichen Arbeit noch gar nicht begonnen«, stellte Aurelio fest.
    »Oh doch«,

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