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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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schob die Zeichnung zurück in das Geheimfach. »Am Ende, Aurelio, ist auch sie nur eine Frau wie jede andere.«
    »Ist sie nicht«, entgegnete der Gehilfe. »Sie ist wie dieser Marmorblock: Eine wie sie gibt es kein zweites Mal auf der Welt!«
    Michelangelo senkte seinen Blick. Es sah aus, als schäme er sich. »Ich ahne, was du für sie empfindest, Aurelio. Doch glaub’ mir: Nur eine unerfüllte Liebe kann solche Dimensionen annehmen und so köstliche Wunden schlagen.«
    »Kein anderer Mann hätte dieser Versuchung widerstanden«, beharrte Aurelio, während sich das Bild von Aphrodites Körpers vor sein geistiges Auge schob und ihr bittersüßer Duft die Gerüche des Schuppens vorübergehend auslöschte. »Warum Ihr?«
    Michelangelo klappte die Mappe zu, drehte sich zu Aurelio um und bedachte ihn mit einem langen Blick. »Mein Herz ist bereits vergeben.«
    * * *
    Lange schon hatte Aurelio seinen Meister nicht mehr in dessen Schlafgemach umhergehen hören. In dieser Nacht jedoch kreisten Michelangelos Schritte wieder für Stunden um sich selbst. Unterdessen mischten sich in der Schwärze von Aurelios Kammer die Bilder seines eigenen Lebens auf unheilvolle Weise ineinander. Er sah Margherita, wie sie mit aufgerissenen Augen und aufgeschlitzten Wangen vor ihm stand; Tommaso auf seinem Totenbett, die Finger dünn wie Krähenfüße; Antonia, wie sie von dem Söldner mit der Narbe aus der Tür geschoben wurde; die blutbefleckte Hand des blonden Söldners, die Aurelios Lieblingsbecher umschloss … Das Leid, der Tod – mit unerschöpflicher Geduld schritten sie unerkannt neben dem Leben einher und warteten, bis ihre Zeit gekommen war. Dann nahmen sie sich, was früher oder später ohnehin in ihre Hände fiel, frei von Groll, ohne Genugtuung, ohne Gehässigkeit. Beinahe gelangweilt. Es war so, wie es war. Und so wie es war, hatte man es zu nehmen.
    Aurelio hätte nicht zu sagen gewusst, wann er in den Schlaf geglitten war. Die Bilder hatten ihn auch im Traum begleitet: Blut, Schmerz, unabwendbares Verhängnis. Ebenso wie die Schritte seines Meisters in der Kammer über ihm. Jetzt war das Haus still, und das fahle Licht des frühen Morgens kroch zögerlich unter der Tür durch. Aurelio bemerkte einen diffusen Schatten auf dem Boden. Körperlos und ungreifbar zunächst, zeichnete er sich umso deutlicher ab, je weiter sich das Licht in die Kammer vorwagte. Ein Blatt. Ein doppelt gefaltetes Blatt, das unter der Tür durchgeschoben worden war.
    Aurelio wartete, ohne zu wissen, worauf, betrachtete das Blatt, das sich durch den wachsenden Schatten zu bewegen schien. Erst, als sich das Haus belebte, Rosselli aus seiner Kammer trat und das erste Geschirrklappern aus der Küche zu vernehmen war, stand er auf, nahm das Blatt und faltete es auseinander. Ein Gedicht. Aurelio erkannte es an der Art, wie die Zeilen angeordnet waren. Und er erkannte Michelangelos Handschrift. Sollte sein Meister ihm ein Gedicht geschrieben haben? Als er verwundert und nachdenklich die Tür öffnete, begegnete er völlig unerwartet dem Blick zweier blutunterlaufener Augen.
    Vor Schreck fuhr er zusammen. »Maestro Buonarroti!«
    »Hast du jemand anderen erwartet?«
    »Ich habe niemanden erwartet.«
    Der gehetzte Blick Michelangelos fiel auf das entfaltete Papier, und ehe Aurelio begriff, wie ihm geschah, hatte sein Meister ihm das Blatt entrissen.
    »Hast du es gelesen?«, fragte er vorwurfsvoll.
    Aurelio war zu verwirrt für eine Antwort. Eigentlich wusste sein Meister doch, dass er gar nicht lesen konnte. Was sollte das alles?
    »Hast du es gelesen?«, insistierte Michelangelo.
    Im Hintergrund streckte Rosselli eine sorgenzerfurchte Stirn aus der Tür.
    »Nein«, antwortete Aurelio schließlich.
    Michelangelo stieß hörbar den Atem aus. »Gut.« Er nahm den Zettel und zerriss ihn so lange, bis daraus ein Häuflein fingernagelgroßer Schnipsel geworden war. Auf der Suche nach einem Ort für die Fetzen blickte er sich nervös um: »Weshalb zum Teufel ist hier nirgends ein Feuer?«

XLII
Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.
Genesis 3,6
    Beim Anblick der nackten, halb liegenden Eva rieb sich Aurelio jedes Mal unwillkürlich den Nacken. Die Erinnerung an die Schmerzen, die er erduldet hatte, während er seinem Meister Modell für »Sündenfall und Vertreibung«

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