Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Als gänzlich unmöglich erwies sich der Versuch, die Sehnen und Adern zu glätten, die sich auf dem Handrücken abzeichneten. Selbst äußerste Vorsicht konnte nicht verhindern, dass sie an Kontur verloren.
    »Das genügt«, sagte Michelangelo schließlich.
    Er nahm den Block, blies den Marmorstaub vom Handrücken und hielt ihn gegen das Licht.
    »Bist du zufrieden?«, fragte er seinen Gehilfen, während er ein Auge zukniff und Aurelios Arbeit aus verschiedenen Blickwinkeln prüfte.
    Aurelio zog die Schultern hoch.
    Michelangelo setzte den Stein auf dem Tisch ab. »Also ich an deiner Stelle wäre zufrieden …«
    Der Gehilfe fühlte Stolz in sich aufsteigen, albernen Stolz. Er hatte mit einer Raspel einen Handrücken geglättet. Das war wahrlich nichts, worauf man hätte stolz sein dürfen.
    »Eine Wohltat für das Auge«, fuhr Michelangelo fort, »findest du nicht?«
    »Wenn Ihr meint …«
    Michelangelo strich mit den Fingern über den geglätteten Handrücken. »Auch wenn man ihn befühlt, wird das Auge nicht enttäuscht. Wie Elfenbein – hier …«
    Aurelio tat es ihm nach. Sein Meister hatte recht. Den Handrücken zu befühlen löste das Versprechen ein, das die Augen gemacht hatten. Und in dem Moment stieg zugleich die Gewissheit in Aurelio auf, dass die Einlösung dieses Versprechens nicht das war, worauf sein Meister aus war. Er hatte es bei der Pietà erlebt: Sie war so erhaben und von geradezu überirdischer Schönheit, doch sie anzusehen versetzte dem Betrachter einen Stich. Einen Stich, der ihn emporhob und gleichzeitig in sich zusammensinken ließ.
    »Mach das, was du mit dem Handrücken gemacht hast, mit einer ganzen Figur«, sagte Michelangelo schwermütig, »und du hast am Ende alles Leben aus ihr herausgeraspelt. Sie wird schön anzusehen sein, doch sie wird dich nicht berühren.« Er wählte ein unscheinbares Eisen aus der Reihe der Werkzeuge und hielt es hoch. »Was ist das?«
    »Ein Zahneisen, würde ich sagen, nur …«
    »… kleiner. Richtig. Ich habe lange daran gefeilt, bevor ich die richtige Form gefunden habe.« Michelangelo nahm den kleinsten Holzschlägel, der auf dem Tisch zu finden war. »Und jetzt gib acht, was dieses kleine Stück gehärtetes Eisen zu leisten vermag.«
    Nach diesen Worten war lange nur noch das Pfeifen von Michelangelos Nase und das leise, rhythmische Klopfen des Schlägels zu hören, während sich die gespaltene Zunge des Zahneisens wie von selbst ihren Weg über den marmornen Handrücken suchte, sich in die Vertiefungen zwischen den Fingern vortastete, die Knöchel aus dem Block herausdrückte, so dass die Haut sich über ihnen zu spannen schien. Michelangelo versank derweil in Selbstvergessenheit, verschwand geradezu aus seinem Körper, um ganz zu einem Werkzeug seines Zahneisens zu werden, nicht umgekehrt, sich von ihm um den Tisch führen zu lassen, mal auf diese, mal auf jene Seite, mal bis auf eine Handbreit an den Block heran, mal bis auf Armeslänge von ihm weg.
    Wie hypnotisiert verfolgte Aurelio, wie das Zahneisen von neuem die Konturen hervorbrachte, die durch das Raspeln an Schärfe verloren hatten, wie es die Schatten auf dem Handrücken lebendig werden ließ, Wölbungen und Höhlungen schuf, wo die Gelenke zuvor in einer gichtartigen Starre gefangen waren. Bis Michelangelo schließlich das Zahneisen wieder zu den anderen Werkzeugen legte und vom Tisch zurücktrat, war aus der so gefällig anzusehenden Fläche die Hand einer jungen Frau geworden, eine Hand, die greifen wollte, deren Finger aus dem Block strebten, mit Adern, in denen Blut floss.
    »Siehst du, dass ich ihr irgendwo die Haut verletzt hätte – oder einen Knochen gebrochen?«, fragte Michelangelo.
    Aurelio brauchte nicht nachzusehen. »Nein.«
    »Na also«, bestätigte sein Meister zufrieden, nahm den Block und trug ihn in seine Ecke zurück. »Mir ist noch nie etwas von einem Block abgebrochen, von dem ich nicht wollte, dass es abbricht«, brummte er.
    Aurelio betrachtete das schmale Zahneisen, das sich zwischen den anderen eher mager ausnahm. Ein Stück Metall wie jedes andere. Es würde ihm für immer unbegreiflich bleiben.
    * * *
    Am Abend vor Granaccis Abreise war Michelangelos Haus bereits am späten Nachmittag von einem schweren, satten Geruch nach Zwiebeln, Rosmarin und gebratenem Fleisch erfüllt, der von dem kleinen Hof auf der Rückseite hereinzog. Rosselli hatte tatsächlich im Schatten des Feigenbaums ein Spanferkel gebraten. Auf dem

Weitere Kostenlose Bücher