Der Sixtinische Himmel
ersten Blick überhaupt kein Fortkommen zu erkennen. Immer wieder zwang sich der Bildhauer zu einer Langsamkeit, die seinem rastlosen Temperament völlig zuwider war – wie ein Pferd, das man gewaltsam im Schritt hielt, obgleich es eigentlich galoppieren wollte.
Aurelio erklärte sich das Vorgehen seines Meisters erst, als er ihn dabei beobachtete, wie er zum wiederholten Male das Flacheisen an die Hand mit dem Schlägel übergab, um seine Finger immer wieder über die gleiche Stelle an Aphrodites Hüfte wandern zu lassen. Auf sonderbare Weise schien ihn das permanente Hinauszögern zu befriedigen. Es verschaffte ihm Lust, sich dieser Langsamkeit zu unterwerfen. Aurelio indessen quälte das schwerfällige Tempo, mit dem sein Meister zu Werke ging. Bereits jetzt, da sie kaum zu leben begonnen hatte, ergötzte er sich an der Statue und hungerte danach, ihre Schenkel, ihre Knie, ihre Brüste zu sehen, ihre Füße und Zehen, die Papst Julius so begierig küsste.
Als Michelangelo ihn das erste Mal aufforderte, seine Finger auf Aphrodites sich sanft wölbende Hüfte zu legen, traute Aurelio seinen Händen nicht. Wie war das möglich? Aphrodite hatte sich gerade erst zu entblättern begonnen, doch bereits jetzt konnte er den hauchdünnen Schleier spüren, der ihren Körper umhüllte, konnte die Spannung von Haut und Muskeln erahnen, die eine andere sein würde als bei den muskelbepackten Männern, die sein Meister sonst als Sujet wählte, weicher und zarter und unendlich fein. Bei keiner anderen der vielen Statuen, die Michelangelo ihm in dieser Stadt gezeigt hatte – mit Ausnahme der Pietà –, war etwas Ähnliches in ihm vorgegangen. Sein Meister verfügte über die einzigartige Gabe, den härtesten Stein in zarteste Haut zu verwandeln.
»Es ist das Zahneisen«, erklärte Michelangelo, der, Aurelio den Rücken zugewandt, am Arbeitstisch stand. Er hatte Schlägel und Eisen zu den anderen Werkzeugen gelegt und bog langsam, einen nach dem anderen, die Finger seiner linken Hand nach außen, bis sich diese vollständig geöffnet hatte. »Die meisten Bildhauer haben zu viel Angst vor dem Eisen. Sie legen es zu früh aus der Hand.« Er kühlte seine Handflächen, indem er die Hände eine Weile flach auf den Tisch drückte. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er Aurelio unverändert vor der Marmorsäule stehen. »Und woran liegt das?«, fragte er.
»Ihr wisst, dass ich darauf keine Antwort habe«, entgegnete Aurelio.
»Kein Gefühl für das Material«, fuhr Michelangelo fort. Er war in Gedanken. Aurelio begriff, dass sein Meister die Frage an sich selbst gerichtet hatte, nicht an seinen Gehilfen. »Sie fürchten sich davor, mit einem unbedachten Schlag der Figur eine Wunde zu schlagen, ihre Haut zu verletzen, sie zu ruinieren. Sie meiden das feine Zahneisen wie der Teufel das Weihwasser. Stattdessen greifen sie, kaum dass sie das Flacheisen aus der Hand gelegt haben, zur Raspel und treiben dem Stein seine Struktur aus. Pah!« Seine Nase stieß ein scharfes Pfeifen aus. »Sie machen Marmor zu Holz! Kein Gefühl für das Material …« Er blickte zu Aurelio hinüber, als bemerke er ihn erst jetzt. »Aurelio!«
Der Gehilfe erschrak: »Ja, Maestro?«
»Komm her!«
Michelangelo ging um den Tisch herum, wählte einen von einem halben Dutzend größerer Brocken aus, die er in einer Ecke aufgestapelt hatte, und wuchtete ihn vor Aurelio auf den Tisch. In dem Block war eine Hand gefangen, deren Rücken, Zeige- und Mittelfinger sich aus dem Stein wölbten. Offenbar hatte Michelangelo ihn zu Studienzwecken benutzt. Er deutete auf die Reihe mit Werkzeugen, die vor seinem Gehilfen ausgebreitet lag.
»Nimm die feine Raspel und glätte den Handrücken und die Fingerknöchel.«
Zögerlich schloss sich Aurelios Hand um den Griff der Raspel. Sie war leichter, als er erwartet hatte. Michelangelo machte eine ungeduldige Geste. Aurelio setzte die Raspel an.
Er war überrascht davon, wie schnell sich ein ›Gefühl für das Material‹, wie sein Meister es genannt hatte, einstellte. Als gebe die Raspel die Information über den Stein an seine Hand weiter. Aurelio durfte keinerlei Druck ausüben, sonst deutete sich im Handrücken sofort eine Vertiefung an. Das Eigengewicht der Raspel war längst ausreichend. Wenn er gekonnt hätte, hätte Aurelio ihr Gewicht sogar noch verringert. Schwierig wurde es bei Wölbungen und Vertiefungen, den Knöcheln und ihren Zwischenräumen. Das eine ließ sich nicht bearbeiten, ohne das
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