Der Sixtinische Himmel
und ein grau-brauner Kieselstein kam zum Vorschein, der sich beim zweiten Hinsehen als Zahn erwies.
»Willst du ihn?«, fragte er Aurelio. »Er steht zum Verkauf.«
»Nein«, sagte Aurelio, »danke.«
Der Mann öffnete einen zahnlosen Mund, dem der Geruch fauligen Gedärms entwich. Aurelio wandte den Kopf ab. »Ist mein Letzter, wie du siehst.« Sein heiseres Lachen ließ eine rohe Gaumenleiste hervortreten. »Eines Tages sprechen sie mich heilig, dann kannst du damit ein Vermögen machen.«
»Nein«, wiederholte Aurelio, »danke.«
Ein Stück flussaufwärts war das linke Ufer von zahllosen Fackeln gesäumt. Chigis Villa. Offenbar veranstaltete er eines seiner Bankette. Umspielt von Lautenmelodien, trug der Westwind das glockenhelle Lachen wohlhabender Kurtisanen über das Wasser. Kurz meinte Aurelio sogar, von einem Parfüm gestreift zu werden. Die Villa des Bankiers lag nur drei Steinwürfe entfernt. Hier jedoch, am Tor zu Trastevere, konnte sich die gesamte Hoffnung eines Menschen auf den letzten ausgefallenen Zahn stützen.
Aurelio hätte den Weg wählen können, der ihn – an Chigis Villa vorbei – die Via Lungara hinauf zur Porta Santo Spirito geführt hätte. Doch um diese Zeit hielt sich ohne Begleitung nur außerhalb der Stadtmauern auf, wer keine andere Wahl hatte. Folglich entschied sich Aurelio für den längeren Weg über den Ponte Sisto, die nach Julius benannte Via Giulia und den Ponte Sant’ Angelo.
Mehr als einmal bemerkte Aurelio sich bewegende Schatten, die er erst wahrnahm, nachdem er sie bereits hinter sich gelassen hatte. Gelegentlich zischte ihm eine Stimme nach. Auf der Großbaustelle des Justizpalastes, von dem inzwischen das erste Stockwerk aufgemauert war, huschten Schemen umher. Aurelio jedoch richtete seinen Blick auf das wie flüssiges Blei schimmernde Pflaster der Via Giulia und dachte nach.
Bis Aurelio das Ufer erreichte und sich die mächtige Engelsburg unbezwingbar und feindselig vor ihm erhob, war die Beklemmung dieser Nacht von ihm gewichen. Margherita und er teilten nicht dasselbe Schicksal. Das wusste er jetzt. Diese Stadt hatte sie beide ihres Lebenstraums beraubt, das ja. Doch während Margherita an etwas festhielt, das bereits vergangen war – wie der Mann auf der Brücke an seinem letzten Zahn –, war Aurelio um vieles, Einzigartiges und Unbeschreibliches reicher geworden.
XLVII
Über ein Jahr war vergangen, seit der Papst von Michelangelo gefordert hatte, den fertiggestellten Gewölbeteil zu enthüllen. Dann war er überstürzt nach Ferrara aufgebrochen, um Alfonso d’Este in seine Schranken zu weisen, und war sehr lange nicht zurückgekehrt. Ein ganzes Jahr, in dem Michelangelo seinem halbfertigen Werk nicht einen Pinselstrich hinzugefügt hatte.
Julius war überzeugt gewesen, dass dank der militärischen Unterstützung durch die Schweizer sowie der Inspiration durch Aphrodite seiner göttlichen Mission derselbe Erfolg beschieden sein müsse wie seinem Feldzug gegen Perugia und Bologna. Schließlich hatte sich ihm, seit der Allmächige ihm Aphrodite zugeführt hatte, noch jede Stadt kampflos ergeben. Mit ihr an seiner Seite könnte Julius die Weltherrschaft erlangen – im Namen Gottes. Im Geiste hatte sich der Papst also bereits bei seinem Aufbruch aus Rom unter dem tosenden Jubel Tausender befreiter Seelen in Ferrara einziehen sehen, begleitet von Fanfaren und Posaunen, vor sich, auf dem Boden kniend, Alfonso d’Este, dem er eigenhändig den Kopf abschlagen würde. Doch es sollte anders kommen.
Die Schweizer hatten den Papst schmählich im Stich gelassen. Zwar hatten sie die Alpen überquert, jedoch einzig zu dem Zweck, sogleich wieder den Rückweg anzutreten. Julius hatte Gift und Galle gespuckt, die Schweizer jedoch schien das wenig zu kümmern. Bis der Papst und seine Verbündeten in Bologna eintrafen, war die Heilige Liga auf ein größeres Familientreffen zusammengeschrumpft.
Der Feldzug begann dennoch vielversprechend. Francesco Maria, der milchgesichtige Neffe des Papstes, arbeitete sich mit seinen Truppen trotz Dauerregens Stück für Stück in das Territorium d’Estes vor. Alfonso, der sich bis dahin stets siegessicher gegeben hatte, bekam erst kalte Füße, dann weiche Knie. Schließlich legte er ein Friedensangebot vor: Er würde sämtliche Besitztümer in der Romagna an den Papst abtreten und außerdem alle Kosten übernehmen, die Julius durch den Feldzug entstanden waren. Einzig Ferrara wollte er behalten. Das war ein gutes Angebot.
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