Der Sixtinische Himmel
Alfonso d’Este saß noch immer mit geschwellter Brust in seinem Castello, und die Franzosen hatten sich über Norditalien hergemacht wie die Frösche über Ägypten. Doch wenn es etwas gab, das Julius niemals akzeptieren würde, dann war es eine Niederlage.
* * *
In mancherlei Hinsicht gehörte das hinter ihnen liegende Jahr, in dem Julius seinen Feldzug unternommen hatte und die Arbeit am Gewölbe ruhte, zur schönsten Zeit, die Michelangelo und Aurelio erleben sollten. Da war ein Gefühl der Befreiung gewesen, das sich unbemerkt im Haus ausgebreitet hatte, wie bei dem Feigenbaum im Hof, der im September noch einmal überraschend zur Blüte gelangte. Julius war in den Norden gezogen, um Krieg zu führen. Den halben Vatikan hatte er mitgenommen, Bramante und de’ Grassi eingeschlossen. Und Aphrodite. Niemand verlangte Rechenschaft von Michelangelo, niemand machte ihm Vorschriften.
Für Aurelio war die Abwesenheit der Kurtisane schmerzhaft und erlösend zugleich gewesen. Solange er sie in ihren Gemächern gewusst hatte, hinter den Vorhängen, zu denen er aufsah, wann immer er im Cortile Wasser holte, hatte er keine andere Wahl gehabt, als sich nach ihr zu sehnen, sich nach ihrem Körper zu verzehren, nach ihrer Stimme, ihrem Duft, ihrer Bewegung, ihrer Sinnlichkeit und ihrem Feuer. Diese Sehnsucht hatte ihn gequält, beglückt und auf tragische Weise erfüllt, und sie hatte sein Herz schlagen lassen, als müsse es Steine schleppen. Jetzt, da sie Julius nach Bologna gefolgt war, war Aphrodite nicht weniger unerreichbar als zuvor, doch wenigstens hatte sie Aurelio von ihrer Gegenwart entbunden.
So entfalteten die Monate nach dem Aufbruch des Papstes – der späte Sommer mit seinen warmen Farben, dem ein milder Herbst folgte – eine Unbeschwertheit, wie Michelangelo sie selten erlebt hatte. Tagsüber zeichnete er und arbeitete die Entwürfe für die zweite Gewölbehälfte aus. Sogar die Kartons fertigte er bereits an. Jeder von ihnen würde später einen langen Tag harter Arbeit bedeuten. Jetzt stapelten sie sich auf Granaccis Lager und wuchsen langsam in die Höhe.
Wenn Aurelio seinem Meister nicht gerade Modell stand, ging er Piero in der Küche zur Hand, oder sie experimentierten an einer Wand im Atelier mit neuen Pigmentmischungen. Nachmittags fanden sie sich dann zu dritt um den Arbeitstisch ein. Michelangelo legte ihnen seine Entwürfe vor, und sie suchten meist vergeblich nach etwas, das ihnen verbesserungswürdig erschien. Anschließend zog sich der Bildhauer auf sein Zimmer zurück und schlief zwei bis drei Stunden, um pünktlich zum Abendessen die Treppe herabzusteigen und tatsächlich etwas zu essen. Es war das erste und einzige Mal, dass Rosselli und Aurelio ihn regelmäßig schlafen und essen sahen.
Nachts teilte Michelangelo mit seinem Gehilfen dann in der verschwiegenen Intimität des Schuppens am Tiber das köstlichste und zugleich gefährlichste Geheimnis. Er ließ Aurelio an der Entstehung der Statue teilhaben. Und mit jedem weiteren Fingerbreit, den Michelangelo Aphrodite von ihrer steinernen Hülle befreite, mit jedem bisschen ihres Marmorstaubs, das Aurelio sich heimlich in die Haut rieb, kam es dem Gehilfen vor, als nehme er ein Stück mehr von ihr in Besitz. Sie würde für immer unerreichbar bleiben, zugleich aber war sie ihm näher als je zuvor.
* * *
Erst gegen Ende des Jahres 1510 wurde Michelangelo wieder von seiner inneren Unruhe erfasst. Er hatte kein Geld mehr. Ein Zustand, der ihn normalerweise bereits im Frühstadium in einer Weise belastete, wie es sonst nur die Sorge um seine Familie vermochte. Diesmal aber war die Situation tatsächlich vertrackt. Seit dem Beginn der Arbeiten vor zweieinhalb Jahren hatte er keine Zahlung mehr erhalten. Mit Julius hatte er vereinbart, dass nach Vollendung der ersten Gewölbehälfte eine Zahlung von tausend Dukaten fällig werden sollte, hinzu kamen weitere fünfhundert Dukaten als Anzahlung für die zweite Hälfte. Nun hatte Michelangelo den ersten Teil des Freskos zwar fertiggestellt, der Papst jedoch hatte die Gelegenheit versäumt, ihn in Augenschein zu nehmen. Folglich hatte Michelangelo bislang weder für die fertiggestellte noch für die zu beginnende Hälfte Geld bekommen.
Jetzt, da sich das Jahr seinem Ende zuneigte, lag Julius bereits seit Wochen in Bologna auf seinem Krankenbett, und wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, die hinter den Mauern des Vatikans kursierten, so stand zu befürchten, dass er sich lebend nicht
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