Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
1
Camden Park, Lancaster, Maryland
Sonntag, 3. Oktober, 19:50 Uhr
J auchzen und fröhliches Gelächter. Es duftete nach Waffeln. Knarzende Luftballons wurden zu Pudeln mit runden Ohren geformt. Auf den Wegen wimmelte es von Müttern mit schwerbeladenen Buggys. Die Väter hatten Bluetooth-Sets im Ohr und achteten nicht auf ihre Kinder, die ihnen hinterhertrotteten, abgelenkt von den bunten Überresten zerplatzter Pudelballons und den Rufen der Eisverkäufer. Leichte Beute, wenn man ein Kinderschänder oder Entführer war.
Der Killer war keines von beiden. Die Kinder interessierten ihn nicht, sie waren unschuldig. Schuldig waren die Mütter. Sie hatten abscheuliche, unaussprechliche Verbrechen begangen und dachten, sie kämen damit durch.
Falsch gedacht.
Schon bald würde er einer dieser Mütter eine Lektion erteilen. Einer jungen Frau mit dunklem, langem Haar und einem Porzellanteint. Sie lauerte hinter dem Stand eines Gauklers und schoss mit einer billigen Kamera heimlich Fotos von dem kleinen Austin, dem zweijährigen Sohn von Robert und Alana Kinney. Bereits seit einer Stunde verfolgte die Frau die Familie durch den Trubel.
Jetzt, nach zwei Jahren, schien sie plötzlich das schlechte Gewissen zu packen.
Zu spät, miese Schlampe. Dafür war es viel zu spät.
Ohne etwas von ihrem Verfolger zu ahnen, zog die Frau ihre Jeansjacke enger um sich und folgte den Kinneys zum Parkplatz. Sie schlich an der äußeren Wagenreihe entlang, hinter der der Wald begann, und schoss weitere Fotos des Jungen. Lächerlich. Bei ihr würde er leichtes Spiel haben. Bei dieser Frau, die sich vor den Blicken der anderen verborgen hielt, mit ihrer Rechtschaffenheit und ihrer kleinen Kamera. Der Killer kürzte seinen Weg an zwei Autos vorbei ab und war seiner Beute nun dicht auf den Fersen. Er hielt den Kopf gesenkt, aber man hätte ihn ohnehin nicht erkannt: Stiefel, Schirmmütze, Bart. Dazu ein weit geschnittener Anorak mit großen Taschen. Die alte Küchenschere verlässlich darin verborgen.
Ruhig. Beobachte, warte den richtigen Augenblick ab. Die Kinneys gingen zum entgegengesetzten Ende des Parkplatzes. Austin saß auf den Schultern seines Vaters, das kleine Gesicht hinter einer Wolke hellblauer Zuckerwatte verborgen. Robert Kinney drückte auf den Autoschlüssel, und die Blinker eines schwarzen Mercedes leuchteten kurz auf. Die Frau, die bald sterben würde, kauerte jetzt im Park hinter einer Rhododendronhecke. Der Killer machte sich bereit. Adrenalin schoss ihm ins Blut. Sie war noch gut vier Meter entfernt. Abgelenkt, abgeschirmt und ahnungslos.
Jetzt.
Der Killer stürzte von hinten heran, die Küchenschere wie einen Torpedo auf den schlanken Hals seines Opfers gerichtet. Die Frau musste etwas bemerkt haben, denn sie fuhr herum und öffnete den Mund zu einem Schrei, doch da drangen die Schneidblätter bereits in ihre Kehle ein, und ihr entfuhr nur noch ein leises Unck. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie sank zu Boden, während die Schere unablässig in ihr Fleisch stieß, vor und zurück, vor und zurück. Mit jedem Stoß schien die Zeit langsamer zu vergehen, wie die Zeitlupe eines schlechten Traums. Die Wange, vergiss die Wange nicht. Die Schneidblätter fuhren weiter oben in die weiche Haut und zerfetzten sie. Blut spritzte auf die Lippen des Killers und hinterließ den Geschmack von Kupfer.
Fünfzehn, vielleicht zwanzig Sekunden vergingen – halt, hör auf, bevor sie völlig hinüber ist. Sie soll lange genug leben, um zu begreifen, was geschieht. Steh auf. Atme.
Der Killer erhob sich keuchend und wischte sich über den Ärmel. Die Frau lag mit weit geöffneten Augen auf dem Boden. Sie hatte die Knie angezogen, und ein Gurgeln drang aus ihrer Kehle. Nach einigen Sekunden begriff sie, und der wunderbare Ausdruck des Verstehens trat in ihre Augen.
Sie wusste Bescheid. In diesen letzten, göttlichen Sekunden kapierten die Frauen immer, worum es ging. Ich hab’s verstanden, war in ihrem flackernden Blick zu lesen.
Ja, das solltest du auch. Für Kristina. Damit sie zurückkommt.
Der Killer kniete sich vor sein Opfer, ergriff ein dickes Büschel blutverschmierten Haars und säbelte es ab. Ein weiterer Schritt in Richtung Vergeltung.
Eine Hupe ertönte. Verdammter Mist, Beeilung, es gab noch so viel zu tun. Fulton anrufen. Heute würde sich zeigen, ob er sein Geld wert war. Auch wenn die Leiche des Mädchens im Wald versteckt lag, konnte jemand sie finden. Für derlei Komplikationen war die Zeit jedoch zu knapp.
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