Der Sixtinische Himmel
Der Papst jedoch wollte keinen Frieden. Er wollte Krieg. Und Rache. Das Bild von d’Estes auf eine Lanze gespießtem Kopf war zu einer fixen Idee geworden. Wahren Seelenfrieden würde Julius nicht finden, solange Alfonso ihn noch auf den Schultern trug.
Der Herbst kam. Das ohnehin schlechte Wetter verschlechterte sich weiter. Der Vormarsch geriet ins Stocken und blieb immer häufiger im Schlamm stecken. Für Julius gleichermaßen tragisch war der Umstand, dass er an einem Fieber erkrankte. Wochenlang war er in Bologna an sein Lager gefesselt – und das, wo ihn seit Jahren alle möglichen Leiden wie Blutegel befielen: die Franzosenkrankheit, die Gicht, Malaria, Hämorrhoiden. Aphrodite, seine Muse, seine Göttin, sein Lebenselixier, durfte nicht für einen Moment von seiner Seite weichen. Jeder andere in seiner Situation und seinem Alter wäre sicherlich gestorben. Nicht aber Julius. Für ihn bedeutete jede neue Krankheit eine weitere Herausforderung. Und wenn es auf dieser Welt etwas gab, das all seine Kräfte zu mobilisieren in der Lage war, dann war es der Kampf. Und wenn es etwas gab, das er niemals akzeptieren würde, dann war es die Niederlage.
Dem Herbst war der Winter gefolgt, dem Regen der Schnee. Noch immer war der Papst nicht in der Lage, sich ohne fremde Hilfe von seinem Krankenlager zu erheben. Ohne seine unerbittlich strenge Hand allerdings verwandelten sich seine Soldaten nach und nach in genügsame Kühe, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich ein friedliches Plätzchen zum Grasen zu suchen. Francesco Maria, der schon vor Monaten Mirandola hätte einnehmen können, klagte derweil über kalte Füße. Kalte Füße! Kaum drehte Julius seinem Neffen den Rücken zu, verkroch sich der in seinem Zelt und jammerte. Julius musste handeln. Solange die Verantwortung für diese Unternehmung auf Francescos kümmerlichen Schultern ruhte, würden seine Truppen bestenfalls ein Vogelnest einnehmen oder einen Fuchsbau ausheben, niemals aber die Mauern Ferraras überwinden.
Am Neujahrstag ließ der Papst für seinen Aufbruch aus Bologna rüsten. Seine Berater – da Viterbo, de’ Grassi, Bramante –, die er zur Teilnahme an seinem Feldzug verpflichtet hatte, trauten ihren Ohren nicht: Vierzig Meilen, bei diesem Wetter, in seiner Verfassung? Das würde Julius nicht überleben. Der Papst jedoch ließ sich nicht beirren. Aphrodite hatte ihn darin bestärkt, dass er in göttlicher Mission unterwegs war. Wenn Gott für ihn den Tod vorgesehen hatte, dann konnte er seinem Schicksal ohnehin nicht entgehen.
Am Morgen des zweiten Januar 1511 ließ er sich auf einem von Bramante entworfenen Schlitten in dichtem Schneetreiben und unter einem bleischweren Himmel von zwei Ochsen aus der Stadt ziehen, um nach wenigen Schritten im Nebel zu verschwinden und drei Tage später bei Mirandola wieder zum Vorschein zu kommen. Am siebzehnten rückte Francesco Maria notgedrungen gegen Mirandola vor, am zwanzigsten wurde die Stadt eingenommen, am einundzwanzigsten war sie vollständig geplündert. Von neuer Zuversicht durchströmt, ließ sich der Papst vor seiner angebeteten Kurtisane auf die gichtigen Knie sinken und bat flehentlich darum, gedemütigt zu werden. Seiner Bitte wurde stattgegeben.
»Wie kann es sein«, fuhr Julius seinen Neffen an, bevor er sich auf seinem Schlitten wieder nach Bologna aufmachte, »dass ein kranker Mann, der dreimal so alt ist wie du, in drei Tagen erreicht, was du in drei Monaten nicht zuwege bringst?«
Francesco hatte keine Antwort.
»Du weißt, in welcher Richtung Ferrara liegt?«
Das wisse er, entgegnete Francesco mit gesenktem Haupt.
»Dann weißt du auch, was du jetzt zu tun hast!«, donnerte der Papst.
Am Ende hatte dennoch alles zu lange gedauert. Bis Francesco mit den von ihm befehligten Truppen endlich so weit nach Ferrara vorgerückt war, dass man über eine Belagerung hätte nachdenken können, war es Frühling geworden, und Alfonso d’Este hatte Unterstützung von den Franzosen bekommen. Statt selbst anzugreifen, wendete sich das Blatt, und die päpstlichen Truppen wurden nun ihrerseits angegriffen. Francesco floh so überstürzt, dass er unterwegs seine Stiefel verlor. Julius musste sich nach Ravenna in Sicherheit bringen, und im Mai marschierten die Franzosen in Bologna ein. Im Juni 1511, zehn Monate nach seinem Aufbruch, kehrte Julius nach Rom zurück. Seine geheiligte Mission hatte ein wenig göttliches Ende gefunden. Statt Ferrara einzunehmen, hatte er Bologna verloren.
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