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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Kirchenbetrieb nicht durch auf die Straße gespülte Exkremente zu gefährden, hatte man eine kleine Holzbrücke errichtet, den Ponticello. Die Luft im Bordelletto war stickig in dieser Nacht, wie festgebacken klebte die feuchte Hitze an den Steinen. Hier jedoch, am Westhang des Palatins, genügte der kaum spürbare Luftzug, um dem beißenden Geruch der tiefer gelegenen Gassen die Strenge zu nehmen. Erleichtert richtete Aurelio sich auf. Dann blieb er stehen.
    Er war noch etwa dreißig Schritte vom Ponticello entfernt, auf dessen Geländer Fackeln aufgesteckt waren, doch er erkannte Margherita sofort. Noch immer war ihr diese stolze Haltung eigen, die sie größer erscheinen ließ als die Frauen um sich herum, auch wenn sie es nicht war. Noch immer trug sie das schönste Kleid, und noch immer hob sich ihr Lachen von dem der anderen ab – eine Spur zu schrill und zu laut. Kopf und Hals verbarg sie unter einem senfgelben, mit Schmucksteinen verzierten Chaperon, das eine Straußenfeder zierte und das auf der Vorderseite mit einem Schleier versehen war. Die erlittene Sfregia hatte ihre Karriere als ehrbare Kurtisane beendet, ihr Stolz jedoch schien ungebrochen. Um nicht von ihr erkannt zu werden, zog Aurelio sich sein Barett in die Stirn und wich in den Schatten eines überhängenden Balkons zurück.
    Als Granacci von dem Abend erzählt hatte, an dem er Margherita hatte besuchen wollen, um stattdessen zu erfahren, was ihr während seiner Abwesenheit zugestoßen war, war alles wieder hochgekommen – wie die Ausscheidungen der Stadt, die hier, im Velabro, aus den Kanaldeckeln krochen. Später, im Halbschlaf in seinem Bett, hatte sich Aurelio in Margheritas Gemach wiedergefunden, unfähig, seiner Geliebten beizustehen, das Unglück zu verhindern. Er hatte sich Gedanken gemacht, über Gott und ob die Sfregia die gerechte Strafe für Margheritas Verfehlungen gewesen war, doch er hatte keine Antwort gefunden. Später war ihm klargeworden, dass keine wie auch immer geartete Antwort sein schlechtes Gewissen erleichtert hätte, das ihn seither plagte.
    Nun, da Aurelio in der Verschwiegenheit des Schattens an den Abend mit Granacci zurückdachte, begriff er zum ersten Mal, weshalb er überhaupt hier war: Schuld. Er fühlte sich schuldig an Margheritas Schicksal. Und wenn er ehrlich gegen sich selbst war, dann hatte er sich auf die Suche nach ihr begeben, weil er sich Absolution erhoffte. Erst dann könnte er sie endgültig hinter sich lassen. Am Ende hatte ihn also nicht die Sorge um seine einstige Geliebte hergeführt, sondern die Hoffnung, von seiner Schuld freigesprochen zu werden. Aurelio trat aus dem Schatten und ließ sich im Strom der Menschen an die Stelzen des Ponticello schwemmen.
    Auf der kleinen Brücke herrschte ein Gurren wie im Taubenschlag. Freier, die um den Preis feilschten, wurden hingehalten, angefüttert, herangezogen, wieder vom Haken gelassen oder eingeholt. Unwillkürlich suchte Aurelio erneut im Schatten Zuflucht, diesmal unter dem Brückenbogen. Er hörte Margheritas durchdringende Stimme, wie sie einem unverschämten Freier nachrief, er solle achtgeben, sonst strecke sein Hahn den Kopf noch von alleine durch die Hose. Aurelio zögerte. Doch er wusste, dass es im Grunde keinen Ausweg gab. Margherita musste ihn erlösen. Sonst würde er die Last ihres Schicksals für immer mit sich herumtragen. Und das durfte nicht sein. Das Schicksal seiner Mutter lastete schwer genug für ein Leben.
    Er trat einen Schritt aus dem Schatten: »Margherita?«
    Sie hörte ihn nicht.
    »Margherita!«
    Über ihm wurde es still. Ihr Kleid raschelte, dann beugte sie sich über die Brüstung und tastete mit den Augen im Halbdunkel nach seiner Silhouette. Aurelio schluckte, hob seinen Blick und schob sich das Barett aus der Stirn.
    Ein Schauer durchlief Margherita – wie ein kalter Windhauch, der durch die Blätter eines Baumes strich. Als sie endlich antwortete, war ihre Stimme tränenverschleiert: »Heilige Mutter Maria – warum tust du mir das an?«
    * * *
    Sie gingen nebeneinander, ohne sich zu berühren oder miteinander zu sprechen. Margherita schlug die Richtung zum Tiber ein, geleitete Aurelio ein Stück flussaufwärts und wechselte schließlich über den Ponte Fabricio, die älteste Brücke Roms, und den Ponte San Bartolomeo auf die andere Tiberseite hinüber. Nach einem kurzen Irrgang durch die licht- und namenlosen Gassen von Trastevere gelangten sie an einen Weg, der geradewegs zum Tiber führte.
    Vor dem letzten

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