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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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bin derjenige, dem Rechenschaft abzulegen ist, nicht umgekehrt.«
    So war das also: Erst hatte Bramante mit Julius gewettet, dass Michelangelo der Aufgabe des Freskos nicht gewachsen sein würde, jetzt, da seine Wette verloren war, wollte er das Gewölbe zum Kampfschauplatz machen und seinen Günstling mit Michelangelo einen Wettstreit austragen lassen. Und was wäre mit Michelangelos Gesamtkonzeption, was mit dem Adam, was mit den Propheten und Sibyllen? Sollte das alles verloren sein? Die Kartons, die sich hundertfach in seinem Atelier stapelten – sollte das alles vergebens gewesen sein?
    »Dann tut es!«, rief Michelangelo. »Lasst das Gewölbe der Sistina mit hübschen Nymphen und geflügelten Putten auspinseln!«
    Wieder ergriff Bramante für seinen Schützling Partei: »Raffael ist ein Meister seines Fachs! Seine Fresken werden den Euren in keiner Weise …«
    »Ganz recht!«, donnerte Michelangelo, der Bramante nur deshalb nicht in Stücke riss, weil der Papst zwischen ihnen stand. »Raffael ist ein Meister seines Fachs. Und sein Fach ist Schönheit, Anmut und Grazie. Mein Fach dagegen ist Ringen, Schmerz, das Streben nach dem ewig Unerreichbaren! Jemand, der nicht weiß, was Entbehrung bedeutet, wird das niemals verstehen – denn er wird es nicht fühlen! Und eine Kunst, die nicht wahrhaft gefühlt ist, wird immer seelenlos bleiben.« Er wandte sich wieder Julius zu. »Heiliger Vater: Die Entscheidung liegt bei Euch. Wollt Ihr Schönheit und Anmut, oder wollt Ihr Erhabenheit, Ergriffensein, Demut vor der Schöpfung? An Süße und zartem Liebreiz ist Raffael unübertroffen. Wenn es Eurer Heiligkeit also darum zu tun ist, die zweite Hälfte des Gewölbes mit einer inhaltslosen Hülle aufzuhübschen: bitte sehr. Ich wünsche viel Vergnügen. Erlaubt mir bitte, mich zu entfernen.«
    Zu Hause angekommen, stampfte Michelangelo ohne ein Wort der Erklärung in seine Kammer hinauf und schloss sich darin ein. Stundenlang hörte Aurelio nur das nervöse Ächzen der Balken, die nicht zur Ruhe kommen wollten.
    Bei Sonnenuntergang schlug eine Faust gegen die Haustür. Aurelio öffnete und erblickte auf Augenhöhe einen Reitstiefel. Dieser gehörte einem uniformierten Gardisten, dessen Pferd Aurelio weit überragte. Er ließ sein Reittier zwei Schritte rückwärts gehen, anschließend förderte er aus seiner ledernen Umhängetasche einen Brief zutage, dem das päpstliche Siegel aufgedrückt war.
    »Eine Nachricht für Michelangelo Buonarroto«, knurrte er.
    »Buonarrot i «, verbesserte Aurelio. »Ich bin sein Gehilfe.«
    Der Uniformierte warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Ich habe diesen Brief persönlich zu übergeben.«
    »Mein Meister ist in seiner Kammer«, entgegnete Aurelio.
    Der Gardist betrachtete das gefaltete Papier zwischen seinen Fingern, rückte sich mit einer schwungvollen Kopfbewegung das übergroße Barett zurecht und ließ den Brief mit einer abfälligen Handbewegung vor Aurelios Füße segeln. Der Gehilfe bückte sich, und noch bevor er ihn ergreifen konnte, sprengte das Pferd davon und bespritzte sein Gesicht mit Lehm.
    * * *
    »Ha!«, tönte es aus Michelangelos Kammer. »HA!!«
    Die Tür flog auf. Aurelio hatte zuvor den Brief unter ihr hindurchgeschoben, sich ins Erdgeschoss zurückgezogen und im Vorraum die Reaktion seines Meisters abgewartet. So, wie Michelangelo am Nachmittag die Treppe hinaufgestürmt war, so trampelte er sie jetzt herab. Auf halbem Weg hielt er inne, schwenkte das entfaltete Blatt wie eine Trophäe und blitzte Aurelio herausfordernd an.
    »Fünfhundert Dukaten hätte ich als Anzahlung für die zweite Hälfte erhalten sollen!«, zischte er. Dann ließ er seine Zähne aufblitzen. »Tausend hat er gezahlt. Das nenne ich Demut!«
    Die Erleichterung des Bildhauers übertrug sich auf seinen Gehilfen. »Das bedeutet, Ihr könnt mit der zweiten Hälfte beginnen?«
    »Das bedeutet, ich werde sie zu Ende führen!«
    * * *
    Sich in den Figuren des Freskos gespiegelt zu sehen, würde Aurelio immer Unbehagen bereiten. Vor allem beim Anblick der Ignudi stellte sich unwillkürlich ein Gefühl der Scham ein. Wie neulich, als ihm im Circus Agonalis ein Scharlatan das Barett vom Kopf gerissen und damit laut kreischend durch die Menge gelaufen war. Der Adam jedoch verstärkte diese Scham in einem Maß, dass Aurelio sich zwingen musste, nicht den Kopf abzuwenden. Es tat weh, ihn anzusehen. Als hätte Michelangelo die geheimsten Winkel seiner Seele ausgeleuchtet.
    Eine Weile

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