Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
Brief überbracht, ohne Absender oder Unterschrift, dafür mit unzweideutiger Botschaft. Die Verfasserin der Zeilen verlangte eine Zusammenkunft.
    »Jetzt schreibt sie mir schon Briefe!«, hatte Michelangelo ausgerufen. »Als würden mir die meiner Brüder nicht genug Kummer bereiten!«
    Aurelio blickte durch den Spalt. Aphrodite. Sie stand vor dem Kamin wie damals, eingehüllt in ein weißes Kleid zwar, aber dennoch in Fleisch und Blut. Ihr Haar lief in einem weichen Bogen über ihre Schultern und wellte sich den Rücken hinab. Sein Verlangen war so groß, dass nur noch der Wandteppich ihn vor dem vollständigen Verlust seines Verstandes trennte.
    Aphrodite ging auf den Bildhauer zu, der sich in der Nähe des Wandbehangs postiert hatte, und blieb eine Armeslänge entfernt vor ihm stehen. »Michelangelo«, ihre Stimme nahm einen flehenden Ton an, »verzeiht meine Indiskretionen. Aber ich muss diese Statue sehen. Ich muss wissen, dass ich nicht vergebens gelebt habe.«
    Der Bildhauer rieb mit besorgter Miene seine Handflächen gegeneinander. »Vor nicht allzu langer Zeit habt Ihr mir vorgeworfen, von Euch so zu sprechen, als wärt Ihr bereits vergangen. Jetzt seid Ihr es, die so spricht.«
    »Ich habe Angst, Michelangelo. Meine Zukunft ist völlig ungewiss. Sollte Julius tatsächlich sterben, muss ich auf der Stelle aus dem Vatikan verschwinden, besser noch aus der Stadt. Am besten aus dem Land. Doch ich kann nicht ohne diese Statue gehen!«
    »Julius war schon oft krank. Er ist häufiger krank als gesund.«
    »Diesmal ist es anders.« Aurelio sah das Flehen in Aphrodites Augen, ihre erregten Lippen … »Er selbst glaubt nicht mehr daran, dem Tod noch länger die Stirn bieten zu können. Heute hat er sich die Sterbesakramente geben lassen.«
    Michelangelo durchfuhr ein Zucken. »Dann ist auch meine Zukunft ungewiss«, überlegte er. »Gut möglich, dass der kommende Papst alles ausradieren wird, was ihn an seinen Vorgänger erinnert. Bei den Spielern auf der Strada dei Banchi wird darauf gewettet, dass als Nächstes ein Franzosenfreund den Thron besteigt. Ich sollte nicht warten, bis er gewählt ist und die Gelegenheit ergreift, mich als Getreuen Julius’ in die Engelsburg sperren zu lassen.«
    »Ihr werdet fliehen?«
    »Noch stehe ich in Julius’ Diensten«, stellte Michelangelo fest.
    »Falls er stirbt.«
    »Ich denke, ich würde umgehend in meine Heimatstadt zurückkehren.«
    »Nach Florenz?«
    »Wohin sonst?«
    »Und meine Statue?«
    »Die ist an einem sicheren Ort.« Der Bildhauer überlegte. »Auch ihr wird es nicht gefallen, noch länger warten zu müssen. Doch im Zweifel wird auch sie sich damit abfinden müssen.«
    Über Aphrodites Gesicht legte sich ein bittendes Lächeln. »Ich könnte Eure Kurtisane werden, so, wie ich Julius’ Kurtisane gewesen bin. Nur mit dem Unterschied« – sie legte Michelangelo zärtlich die Hände auf die Arme –, »dass ich mich Euch mit Freuden unterwerfen würde.«
    Die folgende Stille wurde nur vom Knurren des Jaguars unterbrochen, der sich, als habe man ihm frisch angerührten Arriccio unter die Nase gehalten, auf die Füße hievte und in den äußersten Winkel des Gemachs zurückzog, wo er sich auf einer schweren Decke niederließ. Einem unsichtbaren Impuls gehorchend, näherte Aphrodite ihr Gesicht dem von Michelangelo. Drei Handbreit von ihm entfernt hielt sie inne. Aurelio schnürte sich die Brust zusammen. Beider Blicke, so wurde ihm klar, suchten verzweifelt in den Augen des jeweils anderen nach der letzten Antwort, nach der Wahrheit, die keine Zunge verleugnen und keine Geste verschleiern konnte. Schließlich neigte Aphrodite ihren Kopf zur Seite, ihr Haar rutschte von der Schulter wie ein schwarzer Samtvorhang, und sie bot Michelangelo ihre leicht geöffneten Lippen dar. Aurelio schloss die Augen. Heiße Tränen sprangen unter seinen Lidern hervor.
    »Mit Freuden unterwerfen«, hörte er Michelangelo sagen. »So etwas kann nur einer Frau einfallen …« Er musste sie abgewiesen haben. Sie standen sechs Fuß voneinander entfernt in der Mitte des Raums. Offenbar hatte sein Meister hinter ihren Augen etwas anderes erblickt als sie hinter seinen. »Ich habe mich entschieden, mein Leben der Kunst zu opfern«, fuhr er fort. »Das ist Gottes Wille. Und wahrhaft Großes kann in der Kunst nur hervorbringen, wer auf das Glück des Lebens verzichtet.« In Aphrodites Gesicht mischten sich erschütterter Stolz und der Hunger nach Vergeltung. »Warum tut Ihr nicht, was

Weitere Kostenlose Bücher