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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Farben angemischt hatte, war er meist so müde, dass er sich über Mittag in einen Winkel der Arbeitsbühne zurückzog, wo er sich auf die nackten Bretter legte und auf der Stelle einschlief. Anders als sein Meister brauchte Aurelio wenigstens einige Stunden Schlaf.
    Michelangelo hätte andere, neue Gehilfen hinzuziehen können, doch die Idee behagte ihm nicht. Er wollte die Intimität der Zusammenarbeit zwischen Aurelio und ihm nicht durch fremde Energien gefährden, Menschen mit einer eigenen Persönlichkeit, die er nicht kannte, Römer am Ende, und das, wo er Menschen im Allgemeinen bereits misstraute, von Römern ganz zu schweigen. Dann lieber einen Monat länger brauchen. Sie würden es zu zweit zu Ende bringen. Eine eingeschworene Gemeinschaft, die alles miteinander teilte. Nur nicht das Bett.
    * * *
    Beinahe wäre alles ganz anders gekommen. Zwei Tage nach der triumphalen Enthüllung der ersten Gewölbehälfte bestellte Julius Michelangelo in den Papstpalast. Endlich. Sie würden die finanziellen Fragen klären, Michelangelo würde sein Geld erhalten und könnte nach über einem Jahr Zwangspause die Arbeit wiederaufnehmen. Der Papst empfing ihn in seiner künftigen Privatbibliothek, dem Raum, den Raffael in den vergangenen zwei Jahren mit Fresken versehen hatte. Vielmehr, empfing er ihn nicht, sondern ließ ihn durch den westlichen Eingang in den Saal führen und warten.
    Wie jedermann in Rom hatte auch Michelangelo viel von Raffaels Fresken gehört. Sie machten so sehr von sich reden, dass man ihnen nicht entkommen konnte. Nun sah der Bildhauer sie zum ersten Mal, musste sie sehen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, weshalb Julius ihn ausgerechnet in diesen Saal hatte führen lassen. Die Einladung zur Enthüllung der Disputa im vergangenen Jahr hatte Michelangelo noch ausgeschlagen. Jetzt stand er allein in dem leeren Raum, und sämtliche Wände waren mit Raffaels Arbeiten versehen.
    Den Fresken war ein thematisches Konzept übergeordnet. Sie stellten die drei höchsten Prinzipien des menschlichen Geistes dar: das Wahre, das Schöne und das Gute. Die Disputa , der Triumph der Religion, verbildlichte die spirituelle Wahrheit. Ihr gegenüber hatte Raffael Die Schule von Athen gemalt, auf der die berühmten Philosophen der Antike versammelt waren. Dieses Fresko pries die rationale Wahrheit. Das Gute war in dem Fresko an der Südwand dargestellt, den Kardinals- und Gottestugenden , das Schöne schließlich im Parnass an der Nordwand. Michelangelo schnaufte und betrachtete widerwillig die Disputa . Was blieb ihm anderes übrig? Wohin er auch seinen Blick richtete, stets fiel er auf eines von Raffaels Fresken.
    Die Arbeit war, was Michelangelo insgeheim von ihr befürchtet hatte: einzigartig. Und sie würde es bleiben. Da konnte er noch so lange nach Makeln suchen. Die Raumaufteilung hätte gelungener nicht sein können. Die gestalterische Anordnung war selbsterklärend und dennoch von größter Komplexität. Die Figuren waren in subtiler Weise aufeinander bezogen. Jede einzelne hatte ihre Funktion und war organisch und logisch in das Gesamtkonzept eingebunden. Giuliano da Sangallo hatte untertrieben, als er das Fresko als »außergewöhnliche Arbeit« beschrieben hatte. Es war vollkommen, zu vollkommen beinahe.
    Mit der Schule von Athen auf der gegenüberliegenden Wand verhielt es sich nicht anders. Auch sie war in ihrer Gestaltung neu und von selten erreichter Perfektion. Raffael hatte, offenbar inspiriert von Bramantes Plänen für den Neubau von Sankt Peter, die Möglichkeiten des perspektivischen Malens voll ausgeschöpft. Die Tiefe des Raums zog den Betrachter förmlich in das Bild hinein. Wie bei der Disputa , so war auch hier die Aufteilung vollendet, und jede einzelne der mehr als fünfzig Figuren ergab einen Sinn. Die Überlegenheit seines Konkurrenten auf diesem Gebiet stach Michelangelo wie ein stumpfes Messer in die Brust. In Fragen der Bildkomposition, das musste er sich schmerzhaft eingestehen, würde er Raffael niemals das Wasser reichen. Und doch hielt der Anblick dieser Fresken etwas Tröstliches bereit, etwas, das Michelangelo in seiner Arbeit bestätigte. Es dauerte nur eine Weile, ehe sich diese Erkenntnis an dem Schmerz in seiner Brust vorbeigearbeitet hatte und sich in Worte formen ließ. Bei aller Schönheit und Wohltat für das Auge fehlte den Figuren Raffaels, so gefällig sie modelliert und so vollkommen sie in Szene gesetzt sein mochten, doch das für Michelangelo Entscheidende:

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