Der Sixtinische Himmel
beobachtete der Bildhauer seinen Gehilfen dabei, wie dieser auf der Suche nach einer Erklärung mit in den Nacken gelegtem Kopf die fertige Figur studierte. Schließlich erläuterte Michelangelo: »Das Maß der geistigen Durchdringung vollzieht sich auf Wegen, für die das Auge nur die Pforte sein kann.«
Aurelio legte sich auf die Bretter, die Arme verschränkt, den Blick auf das Gewölbe gerichtet. Das rechte Bein Adams, die Giornata, die sein Meister soeben fertiggestellt hatte, war noch nicht vollständig getrocknet und von feuchtem Glanz überzogen. Die Abendsonne erfüllte das Gewölbe mit einem goldenen Leuchten, die Luft war träge wie Honig. Lange verharrte Aurelio in dieser Position, selbstvergessen und von seinem Meister mit schmerzlichen Blicken bedacht. Das Licht wandelte sich, trug einen blauen Schleier herein, die Luft wurde durchlässiger und kühlte langsam ab. In sicherem Abstand tat Michelangelo es seinem Gehilfen schließlich gleich: Er legte sich auf die Bühne und betrachtete den überlebensgroßen Adam.
Aurelio hätte gerne etwas gesagt, doch alle Worte, auf die er sich zu besinnen vermochte, erschienen ihm ungeeignet. Dass der Adam großartig war, wollte er sagen. Doch er war mehr als das. Und als sich Aurelio auf die Suche begab nach diesem »mehr«, begann er langsam zu begreifen, was sein Meister gemeint hatte, als er sagte, dass die Augen nur die Pforte waren für das, was es zu erkennen galt. Der Adam, der da nackt über ihren Köpfen schwebte – er war, was Michelangelo selbst so gerne gewesen wäre: stark und dennoch empfindsam, männlich und dennoch überbordend vor sinnlicher Schönheit. Der Papst hatte gut daran getan, Michelangelo und nicht Raffael die Vollendung der Fresken anzuvertrauen.
L
Es war Aurelio, der es als Erster bemerkte. Und in dem Moment, da er es bemerkte, fiel ihm auf, dass es schon da gewesen war, als Michelangelo und er das Haus verlassen hatten. Im trüben Novemberregen waren sie nach dem Abendessen mit eingezogenen Köpfen entlang des Passetto zur Engelsburg hinuntergegangen, um im Strom der Menschen unterzutauchen, der sich neuerdings wie ein Bandwurm ohne Anfang und ohne Ende durch die Adern der Stadt zwängte. Zu dieser Zeit und bei diesem Wetter verirrte sich sonst kaum ein Römer auf die Straße, doch seit einigen Tagen befand sich die Stadt im Ausnahmezustand. Eigentlich herrschte in Rom ja fortwährend Ausnahmezustand, dieser aber war ein besonderer. Nicht nur hinter den vatikanischen Mauern brodelte es. Die Ewige Stadt war in heimlichem Aufruhr. Von einem venezianischen Gesandten in Umlauf gesetzt, hatte sich die Kunde von Julius’ Krankheit wie ein Lauffeuer verbreitet. Beinahe jeder hatte sich die Zunge daran verbrannt.
Sicher war, dass Julius einen Rückfall erlitten hatte. Aphrodite, so hieß es, habe den Papst endgültig dem Wahnsinn anheimgegeben. Im Fieberwahn gefangen, wälze er sich delirierend auf seinem Bett wie von tausend brennenden Nadeln gestochen, fuchtele mit den Armen, als versuche er, Dämonen abzuwehren, und schreie unablässig den Namen seiner Kurtisane heraus. Sein Ableben sei eine Frage von Stunden eher als von Tagen. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, was danach geschehen würde – nur, dass die Stadt ohne Julius augenblicklich im Chaos versinken würde. Der Polizeipräfekt selbst sollte sich bereits in die Engelsburg geflüchtet haben. Für die Römer hieß das: an sich reißen, wessen man habhaft werden konnte, und sich verbarrikadieren. Während die Wachen im Vatikan sich noch verunsicherte Blicke zuwarfen, trugen die Bediensteten bereits die ersten Silbervasen an ihnen vorbei.
Ausgerechnet da, wo das Gedränge am dichtesten war, mitten auf der Ponte Sant’ Angelo, machte sich bei Aurelio plötzlich dieses unbestimmte Gefühl im Nacken bemerkbar. Bis sie das andere Ufer erreicht hatten, war er sicher.
»Maestro«, er beugte sich zu ihm hinab, »wir werden beobachtet.«
»In dieser Stadt beobachtet jeder jeden«, entgegnete Michelangelo mürrisch und steuerte eine Gasse an, die vom Ufer wegführte. Dieses Gedränge war ihm zuwider.
»Jemand folgt uns«, erklärte Aurelio.
Kaum merklich zuckte sein Meister zusammen. »Ein Spitzel des Papstes?«
»Ich weiß es nicht.«
Michelangelo zog sich die Kapuze in die Stirn. »Wir nehmen den langen Weg«, knurrte er, »an Santa Maria della Pace und dem Circus Agonalis vorbei.«
Im Zickzack durchstreiften sie die verwinkelten Gassen zwischen der Via del Corso und dem
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