Der Sixtinische Himmel
Tiber. Der Regen war überall gleichzeitig. Michelangelos durchnässter Umhang hing schwer von seinen knöchrigen Schultern. Wie immer bemerkte er es kaum. Ihn plagten andere Sorgen. Sollte Julius wirklich sterben, was würde dann aus ihm und dem Fresko?
Die Feuchtigkeit hatte die Straßen hellhörig gemacht. Bis sie das Pantheon erreichten und die von Laternen umstellte Piazza della Rotonda überquerten, war Michelangelo überzeugt: »Da ist niemand.«
Verstohlen blickte Aurelio sich um. Schließlich zog er die Schultern hoch. Sein Meister fühlte sich zu jeder Tages- und Nachtzeit verfolgt. Wenn schon er sicher war, nicht verfolgt zu werden, dann musste sich Aurelio wohl geirrt haben. Schweigend stapften sie durch die lehmigen Gassen zur Ripetta, die Hände in ihren Umhängen vergraben.
Als sie an dem Palazzo vorbeikamen, über dessen Innenhof Aurelio seinem Meister damals zur geheimen Werkstatt gefolgt war, sagte Michelangelo unvermittelt: »Also gut«, und tauchte in den Torbogen ein. Sie betraten den Hof mit dem palmengesäumten Brunnen. »Du gehst weiter«, zischte Michelangelo seinem Gehilfen zu und verschwand im Schatten eines Mauervorsprungs.
Aurelio überquerte den Hof und verließ den Palazzo zur Parallelgasse hin. An der nächsten Kreuzung hielt er inne. Er musste nicht lange warten. Kaum hatte er sich umgedreht, kam mit kurzen, schnellen Schritten eine kleine, schwarz verhüllte Gestalt aus dem Durchgang. Im nächsten Augenblick erschien Michelangelo hinter ihr, schnell wie eine Fledermaus, und stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf sie. Danach war nur noch ein dunkles Knäuel auf dem Boden zu sehen. Spitze Schreie glitten an den feuchten Mauern empor. Entsetzt eilte Aurelio seinem Meister zu Hilfe. Der hatte seinen Verfolger bereits zu Boden gerungen, ihm ein Knie zwischen die Schulterblätter gestoßen und einen Arm auf den Rücken gedreht. Mit der freien Hand riss der Bildhauer der im Matsch liegenden Gestalt die Kapuze vom Kopf. Ein wallender Schleier schwarzer Haare breitete sich über das Gesicht. Michelangelos Hand zögerte kurz, dann schob sie den Schleier zurück.
»Das ist ja eine Frau!«, rief Aurelio überrascht.
Michelangelo stieß einen erschreckten Laut aus, ließ sie los und sprang auf die Füße. »Steht auf«, befahl er.
Die Frau kam auf die Beine und schob sich ihr langes, weiches Haar in den Nacken. Bevor ihr Kopf wieder unter der Kapuze verschwand, hatte Aurelio Gelegenheit, ihr Gesicht zu sehen. Es hatte die Farbe von reinem Bleiweiß und war glatt wie polierter Marmor. Ihre schwarzen Augen funkelten zornig.
»Ist sie das?«, fragte Aurelio unsicher, und dann, als er sicher war, sie schon einmal gesehen zu haben: »Was hat das zu bedeuten, Maestro?«
»Das kann ich dir sagen«, knurrte Michelangelo, wischte sich die Hände an seinem Umhang ab und zog seine Stirn in Falten. Seine Nase zischte in kurzen Abständen. Er versicherte sich, dass niemand in Hörweite war, dann neigte er sich zu der Frau. »Na schön«, seine Stimme verengte sich zu einem eindringlichen Flüstern, »richtet Eurer Herrin aus, ich werde ihrem Wunsch nach einer Zusammenkunft nachkommen. Morgen. Zeit und Ort zu erwähnen, erspare ich uns. Und richtet Eurer Herrin weiterhin aus, dass sie, sollte sie mir ein weiteres Mal nachstellen, niemals auch nur zu Gesicht bekommen wird, was sie so dringend zu sehen wünscht! Habt Ihr das verstanden?«
Der Glanz ihrer Augen bezeugte, dass bereits die Frage eine Beleidigung war.
»Gut«, schloss Michelangelo, »und jetzt verschwindet.«
* * *
»Ich kann nicht länger warten!« Aphrodites Stimme glich dem Fauchen ihres Jaguars.
Mit geschlossenen Augen führte Aurelio seine Nase an den Spalt im Wandbehang und ließ sich vom Duft der Rosenblätter durchströmen, der sich mit dem des brennenden Holzes im Kamin mischte.
»Das werdet Ihr aber müssen«, gab Michelangelo zur Antwort. »Wenigstens so lange, bis die Statue mich davon überzeugt hat, dass es nichts mehr gibt, was ich für sie noch tun könnte.«
Eigentlich hätten sie es sich denken können – dass Aphrodite früher oder später eine Spionin auf sie ansetzen würde. Vor einigen Wochen waren die beiden Männer wieder aufgetaucht, der Blinde und der Stumme, mehrfach. Immer wie aus dem Nichts. Michelangelo hatte sie ein ums andere Mal abgewimmelt. Schließlich war der Bildhauer von einer schwarzgekleideten Frau – der späteren Spionin – aufgesucht worden. In seinem Haus! Sie hatte ihm einen
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