Der Sixtinische Himmel
jede andere Frau an Eurer Stelle tun würde?«, fragte er schließlich.
»Ich soll das Leben einer gewöhnlichen Kurtisane führen?«
»Wenn Euch das nicht genügt: Führt das Leben einer ungewöhnlichen.«
»Unmöglich. Imperia würde mich innerhalb einer Woche umbringen lassen.«
»Dann müsst Ihr Imperia eben zuvorkommen. Das hier ist Rom, so sind die Regeln.«
Aphrodite zog sich ganz auf ihre Seite des Gemachs zurück. Sie schlug ihre Lapislazuliaugen nieder. »Es würde nichts helfen«, sagte sie leise. Sie drehte sich zur Wand. als schäme sie sich. Unter ihrem Kleid schien sie zu frieren. Aurelio spürte ihre Schwermut wie das Gewicht eines Marmorquaders. Ihr Schicksal war unabwendbar. Und es war Teil ihrer Schönheit. »Selbst wenn ich wollte, so könnte ich doch niemals das Leben einer gewöhnlichen Kurtisane führen«, erklärte sie. »Sobald mir eine Frau begegnet, fürchtet sie mich. Steht mir ein Mann gegenüber, begehrt er mich. Von Euch einmal abgesehen. Ihr seid anders. Vielleicht begehre ich Euch deshalb so sehr.« Ihr regloser Körper stand schutzlos im Raum. »Ihr habt recht gehört, Michelangelo: Ich begehre Euch. Ihr seid nicht von dieser Welt.« Langsam richtete sie sich auf, ging wieder zum Kamin und starrte in die Flammen. »Ich weiß nicht, was das ist, das ich da in mir trage. Oder woher es kommt. Wie eine teuflische Saat … Seit ich eine Frau bin, Michelangelo, lebe ich im goldenen Käfig. Nehmt mich und die Statue mit nach Florenz. Ich bitte Euch!«
»Warum um alles in der Welt sollte ich das tun?«
»Das fragt Ihr die Frau, die Ihr seit zwei Jahren in Marmor meißelt?«
»Das solltet Ihr besser wissen. Ich meißele nicht Euch in Marmor, sondern alles, was Gott dem Menschen an Begierden, Sehnsüchten und Sinnlichkeit mit auf seinen bemitleidenswerten Weg gegeben hat – von jeher und für alle Zeit. Ihr seid nur die Hülle, das Gefäß, wenn Ihr so wollt. Bevor Gott das nächste Mal mit den Wimpern schlägt, wird bereits alle Schönheit von Euch gegangen, werdet Ihr alt und krank, schmerzerfüllt gestorben und verwest sein.«
Aphrodite stand wie erstarrt vor dem Kamin, den Blick in die Flammen gerichtet. »Jetzt seid Ihr es, der von mir spricht, als sei ich bereits vergangen.«
* * *
Aurelio erschien es, als seien all diese Worte an ihn gerichtet gewesen, als hätten Aphrodite und sein Meister zu ihm gesprochen. Wie würde das sein, wenn alles vorbei war? Das Fresko. Und, tausendmal schlimmer noch, die Statue. Was würde aus ihm werden, wenn die Aphrodite vollendet und der Schuppen leergeräumt wäre, wenn sein Meister den letzten Propheten gemalt und keine Verwendung mehr für ihn hätte? Wenn der Papst gestorben wäre und Aphrodite für immer das Land verlassen hätte? Er war jung, gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. Was könnte das Leben ihm noch zeigen, das er nicht bereits gesehen, was könnte er noch fühlen, das er nicht bereits empfunden hatte? Wie sollte er das aushalten – den Rest seines Lebens gefangen zu sein in der Sehnsucht nach etwas, das unwiederbringlich vergangen war? Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich Aurelio, alt zu sein, so alt wie der Papst, und sterben zu dürfen, sobald er beides vollendet gesehen hätte, das Fresko und die Statue.
LI
Gott aber hat ihn am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen,
zwar nicht dem ganzen Volk, wohl aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen:
uns, die wir mit ihm nach seiner Auferstehung von den Toten gegessen und getrunken haben.
Und er hat uns geboten, dem Volk zu verkündigen und zu bezeugen:
Das ist der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten.
Apostelgeschichte 10, 40–42
Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, dass der Papst nicht nur der legitime Nachfolger Julius Caesars, sondern auch Jesu war, dann hatte er ihn durch seine eigene Auferstehung erbracht. Drei Tage lang hatte Julius, nachdem ihm die Sterbesakramente gespendet worden waren, reglos und mit in den Höhlen erstarrten Augen unter seinem golddurchwirkten Brokatbaldachin auf dem Bett gelegen. Am Morgen des vierten Tages dann, als man ihn tot aufzufinden erwartete, saß er plötzlich gegen seine Kissen gelehnt und zeigte sich erbost darüber, dass man ihm sein Frühstück noch nicht gebracht hatte. Offenbar waren sämtliche Krankheiten der Welt nicht in der Lage, ihn endgültig niederzuringen. So schnell die Bediensteten die Silbervasen und Samtvorhänge aus dem Vatikan getragen hatten, so eilig wurden sie
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