Der Sixtinische Himmel
wieder herbeigeschafft. Die Aufregung in den Gassen ebbte ab, die Vorboten der Tramontana kühlten die erhitzten Gemüter, hinter den Mauern richtete man sich auf den bevorstehenden Winter ein.
Beim Papst bewirkte die eigene Auferstehung eine grenzenlose Selbstüberhebung. Die letzten Zweifel über seine irdische Bestimmung waren endgültig getilgt. Er war Gottes Kreuzritter, und Aphrodite, seine gottgleiche Kurtisane, war das Medium, das der Allmächtige ihm gesandt hatte. Seine Mission bestand darin, ganz Italien zu einem einheitlichen Kirchenstaat zu formen. Und da ihm möglicherweise nicht mehr viel Zeit blieb, bedeutete das Krieg.
Bei Michelangelo indessen bewirkte Julius’ wundersame Genesung zweierlei: zum einen eine gänzliche Befreiung in seiner Arbeit. Auch bei dem Künstler schwanden die letzten Zweifel, was am deutlichsten bei den Propheten und Sibyllen zutage trat. Jede neue Figur geriet noch größer als die vorhergehende. Bereits der Prophet Daniel und die Persische Sibylle beanspruchten so viel Platz, dass die Gliederung des Freskos beinahe aus den Fugen geriet. Wenn Michelangelo auf diese Weise fortfuhr, würden die Libysche Sibylle und der Jeremias, spätestens aber der Jonas ihre architektonischen Rahmen endgültig sprengen. Irgendwie passte das, dachte Aurelio – dass Michelangelo sich erst seine eigene Begrenzung schuf, um sie anschließend zu überwinden. Dasselbe galt für den Umgang mit den Farben. Auch hier war die Zeit des Experimentierens endgültig vorbei. Oft kam Aurelio mit dem Zerreiben der Pigmente kaum nach und war gleichzeitig von einem Dutzend Bronze- und Marmormörsern umringt. Er arbeitete auf Zuruf: Umbra, Weiß, Grünerde, Violett, gelber Ocker, roter Ocker, Marsbraun … Nur vor dem unbezahlbaren, aus Persien eingeschifften Lapislazuli schreckte Michelangelo zurück. Er fürchtete, es könne die anderen Farben zu sehr dominieren.
Zum anderen drängte es Michelangelo mehr denn je zur Eile. Aus dem ewig Verfolgten wurde ein ewig Gehetzter. Julius’ Auferstehung hatte er als Warnung und göttliches Vorzeichen zugleich verstanden. Wollte er sein Lebenswerk, seine beiden Lebenswerke, zu Ende führen, durfte er keine Zeit mehr verlieren. Nicht einen Tag. So wuchsen die Giornate in demselben Maß wie die Propheten und Sibyllen. Jeden Tag ein Stückchen mehr.
* * *
In der Nacht vor Weihnachten 1511, gegen Morgen, schälte Michelangelo den letzten überflüssigen Marmor von Aphrodites Körper. Noch lagen Monate vor ihnen, in denen der Bildhauer mit Feinbohrer, Raspel und Bimsstein ihre endgültige Gestalt herausarbeiten würde, doch ihre Form, ihre Haltung, waren nun unwiderruflich festgelegt. Zum letzten Mal legte Michelangelo das große Zahneisen aus der Hand, nahm seine Arbeitslampe von der Stirn und löschte die Kerze. Anschließend zogen er und Aurelio sich ihre Schemel heran, setzten sich vor die Statue und erwarteten den Sonnenaufgang. In der Pfanne glommen die letzten Kohlen. Sie würden keine neuen mehr nachlegen, nicht heute Nacht. Aurelio zog seinen Umhang enger. Durch die Ritzen zwischen Wand und Dach drang das erste Tageslicht, wenig, doch genug, um Aphrodite Leben einzuhauchen.
Die Wirkung der Statue war mit nichts vergleichbar, was Aurelio jemals erlebt hatte. Nicht einmal mit der Pietà. Man wusste nicht, was sie mit einem machte, konnte es nicht beschreiben. Bereits jetzt, in ihrem unfertigen Zustand, forderte sie allen Raum für sich ein, den sie bekommen konnte, kündete sie von überirdischer Schönheit, unbändigem Stolz und herausforderndem Hochmut. Zugleich wirkte sie seltsam verloren, isoliert und hilflos, angefüllt mit dem Wissen um die Schicksalhaftigkeit ihrer Existenz, dem Los der Einsamkeit. Die geöffnete rechte Hand neben dem Kopf war bittend gen Himmel gerichtet, die Haltung des Arms ähnlich der des Laokoon, den Michelangelo Aurelio gezeigt hatte. Die linke Hand jedoch deutete hilflos zu Boden und fing die Verzweiflung ein, ihn nicht überwinden zu können. So fragte die eine Hand nach dem Warum, die andere nach dem Wohin. Trotz ihrer Überlebensgröße wirkte die Statue, als schwebe sie. Aphrodites linker Fuß hatte sich bereits vom Boden gelöst, und der rechte, dessen vordere Hälfte unter dem Schleier hervorsah, hielt nur noch mit Zehen und Fußballen Kontakt zur Erde. Als werde sie von unsichtbarer Hand emporgehoben. Durch die Neigung ihres himmelwärts strebenden Körpers hätte sie eigentlich umfallen müssen, doch ihr hauchdünner
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