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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Schleier, der sich vom Boden zu lösen im Begriff war, stützte in Wirklichkeit die gesamte Figur. Zu wahrer Größe, so hatte Michelangelo seinem Gehilfen erklärt, könne eine Statue nur reifen, wenn es gelang, das gesamte Wesen der Figur, alles, was sie denke und fühle, als Bewegung im Raum auszudrücken. Aurelio hatte verstanden, was Michelangelo damit meinte, doch spüren konnte er es erst jetzt.
    »Was ist?«, fragte er, als er die Anspannung seines Meisters bemerkte. »Plagen Euch Zweifel?«
    »Zweifel?« Michelangelo erhob sich und rieb die Handflächen gegeneinander. »Nein, Aurelio.« Er begann, die Statue langsam zu umrunden. »Was mich plagt, sind Skrupel«, erklärte er schließlich. »Ich frage mich, ob es wirklich Gottes Wille sein kann, dass ich eine Statue von solch wollüstiger Sinnlichkeit erschaffe.« Er hatte die Statue umkreist und legte zögerlich zwei Finger auf Aphrodites sich durch den Schleier abzeichnende, leicht geöffnete Lippen. »Nun, die Skrupel kommen, wie es scheint, etwas spät.« Er ging hinüber zur Werkbank, nahm den Schlüsselring an sich und warf Aphrodite einen letzten Blick zu. »Ist noch was?«, fragte er dann.
    Aurelio wusste nicht recht, ob die Frage an ihn oder Aphrodite gerichtet war. »Buon Natale«, gab er zur Antwort. Frohe Weihnachten.
    »Buon Natale«, erwiderte Michelangelo.
    * * *
    Erst am dritten Tag nach Neujahr erhielt die Bank, bei der Michelangelos Post hinterlegt wurde, endlich den Brief Ludovicos, den der Bildhauer bereits seit langem erwartete. Die Schiffsladung mit der Seide hätte schon vor Wochen eingetroffen sein sollen, und sein Vater hatte ihm versichert, dass er ihm schreiben würde, sobald dies geschehen sei. Michelangelo nahm das Kuvert mit unguten Gefühlen entgegen.
    Die Ursache für die Verspätung der Weihnachtspost kam ans Licht, kaum dass Michelangelo den Umschlag geöffnet hatte. Er entfaltete die Blätter und las den Brief, während er die neuerbaute Via Alexandrina hinaufging, die Papst Alexander hatte anlegen lassen, um den Verkehr zwischen Engelsburg und Vatikan in geordnete Bahnen zu lenken. Michelangelo stapfte, den eisigen Wind im Gesicht, die Straße hinauf, zwang entgegenkommende Karren auszuweichen, was ihm unwirsche Kommentare eintrug, und las die im Wind flatternden Zeilen. Das dritte Blatt las er zweimal. Dann war er auf der Piazza Scossacavalli angekommen, dem berühmt-berüchtigten Platz, an dem einander gegenüber Raffael und Imperia ihre Villen bewohnten. Er blieb stehen, die Haare vom Wind zerzaust, ballte die Linke zur Faust, reckte den zerknitterten Brief gen Himmel und rief zur Verwunderung der Umstehenden: »Warum ich?«
    Seine Brüder, seine ganze Familie war ruiniert. Genauer gesagt: Sie hatte sich ruiniert – mit seinem, Michelangelos, Geld. Also hätte man zunächst einmal annehmen sollen, Michelangelo sei der Ruinierte. Das stand da aber nicht. Da stand, die Familie sei ruiniert. Beinahe klang es so, als trage Michelangelo auch noch die Schuld an ihrem Ruin. Das Schiff war gesunken, im Golf von Venedig, den Hafen praktisch vor Augen. Und natürlich hatten seine Brüder es versäumt, die Ladung zu versichern. Giovan Simone und Buonarroto standen mit leeren Händen da, und Ludovico hatte sich lächerlich gemacht. Die ganze Stadt spottete angeblich über ihn, und das nicht einmal hinter vorgehaltener Hand. Seide im Wert von zwölfhundert Dukaten: alles abgesoffen. Es war, als hätte sich Michelangelos Familie hohnlachend am Hafen versammelt, um sein über Jahre erarbeitetes Geld mit vollen Händen ins Meer zu schaufeln. Eintausendzweihundert Dukaten! So viel verdiente ein Mann des popolo minuto in seinem ganzen Leben nicht. Doch es kam noch schlimmer. Giovan Simone und Buonarroto hatten in Erwartung der Lieferung bereits Unmengen an Farben gekauft. Auf denen saßen sie jetzt wie auf einem Berg Fische, den keiner haben wollte und der anfing zu stinken. Deshalb brauchten sie ganz dringend neue Ware, besser heute als morgen, doch sie konnten keine ordern, es sei denn …
    »Noch mehr Geld?!« Noch immer stand Michelangelo mitten auf der Piazza Scossacavalli. Inzwischen machten die Passanten einen Bogen um ihn oder blieben neugierig, aber in sicherer Entfernung stehen. »Pah! PAH!!«
    Zum dritten Mal las er die letzte Seite des Briefs. Nur durch ein weiteres Darlehen, erklärte Ludovico, sei es Giovan Simone und Buonarroto möglich, wenigstens das von Michelangelo geliehene Geld zurückzuzahlen und ihn, Ludovico,

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