Der Sixtinische Himmel
Schnee einsanken. Schnee, in Rom, Ende März!
Mit besorgter Miene schloss Michelangelo die Tür. » A Roma nevica ogni morte di Papa «, zitierte er sichtlich nervös. Wenn es in Rom schneit, stirbt der Papst.
»Das ist doch nur ein altes Sprichwort«, entgegnete Aurelio.
Sein Meister blickte ihn finster an. Was seinen Aberglauben anging, konnten ihm nicht einmal die Römer das Wasser reichen. »Wir müssen uns beeilen«, schloss er. Die Heilige Liga mochte siegreich aus der Schlacht zurückkehren, doch Julius, dessen war Michelangelo sicher, würde es nicht tun.
Wie sich zeigte, war sein Meister mit dieser Ansicht nicht allein. Auf dem Weg zur Sistina begegneten ihnen ausschließlich skeptische oder besorgte Gesichter. Noch schlimmer verhielt es sich innerhalb der vatikanischen Mauern. Die Wachen, die Wäscherinnen, alle beäugten die dünne Schneeschicht, als verätze sie die Haut, sobald man mit ihr in Berührung kam.
Eine Woche später war der Schnee geschmolzen und der Papst, so hieß es, euphorischer gestimmt denn je. Die Heilige Liga würde rechtzeitig in Ravenna eintreffen. Die Truppen von Alfonso d’Este und Gaston de Foix hatten sich eben erst in Bewegung gesetzt. In Rom traf die Meldung ein, dass die Truppenverbände der Heiligen Liga in Kürze Forlì erreichen würden. Von dort wären es nur noch zwei oder drei Tagesmärsche entlang des Ronco, und sie wären in Ravenna. Bereits jetzt war die Strecke für die Truppen der Heiligen Liga kürzer als der Weg, den die Franzosen noch zurückzulegen hatten.
An dem Tag, da diese Nachricht den Vatikan erreichte, wunderte sich Michelangelo darüber, seinen Gehilfen jede Arbeitspause nutzen zu sehen, um sich in einen Winkel der Arbeitsbühne zurückzuziehen und zu beten. Überhaupt wirkte er den ganzen Tag über völlig in sich gekehrt und war kaum ansprechbar.
»Wer hätte gedacht, dass wir mal für den Papst beten würden«, bemerkte Michelangelo, einen Pinsel zwischen den Zähnen.
»Ich bete nicht für den Papst«, antwortete Aurelio abwesend. »Ich bete für meine Familie.«
Seit Monaten hatte Aurelio kaum einen Gedanken auf Matteo, Giovanna und Luigi verwendet. Der Hof, seine Familie – das alles war weit weg und lag lange zurück. Insgeheim war Aurelio erleichtert, wenn er seine Vergangenheit vergessen konnte. Alles andere bedeutete nur Schmerz und führte zu nichts. Doch als er hörte, dass die päpstlichen Truppen in Kürze Forlì erreichen würden, war all das, was er so gut auf Distanz gehalten hatte, wieder über ihn hereingebrochen: Er sah die blutigen Finger des Söldners mit den Fischaugen, spürte im Nacken die Hand, die ihn auf den Schemel gedrückt hatte, die Klinge an seinem Hals, hörte die Schreie seiner Mutter und hatte den Geruch des verkohlten Fleisches in der Nase, der aus der Senke mit den Olivenbäumen heraufgezogen war. Michelangelo fragte nicht nach. Er wusste, was damals geschehen war.
Aurelio spürte, wie gerne ihm sein Meister beigestanden hätte, wie sehr es ihn drängte, ihm zu helfen und ihn zu trösten. Doch so nah wie damals, als Aurelio an der Pest erkrankt war, würde er ihm nie wieder kommen. Sein beredtes Schweigen war das Äußerste, was sich der Bildhauer an Anteilnahme gestattete. Und er selbst litt darunter am meisten.
»Ist schon gut«, sagte Aurelio, als er sich am Abend in seine Kammer zurückzog.
* * *
Getrennt nur noch durch den lächerlich schmalen Ronco, dessen Wasser sich unhörbar und harmlos Richtung Meer bewegten, nahmen die beiden größten Heere, die sich auf italienischem Boden je gegenübergestanden hatten, im nebligen Morgengrauen des 11. April Aufstellung. Und warteten. Es war Ostersonntag. An diesem Tag war noch nie gekämpft worden. Die Barbaren jedoch schienen zu allem fähig. Am Nordufer befanden sich Gaston de Foix und Alfonso d’Este. Einschließlich der achttausendfünfhundert deutschen Landsknechte zählte ihr Heer gut dreiundzwanzigtausend Mann, nicht mitgerechnet Alfonsos fünfzig Kanonen, die den Venezianern noch lebhaft in Erinnerung waren. Am Südufer stand Cardona. Die Garnison von Ravenna mit eingerechnet, war sein Heer ebenfalls über zwanzigtausend Mann stark. Und auch er verfügte über Kanonen.
Als die Nebel sich lichteten, stiefelte ein einzelner französischer Soldat durch den Fluss, meldete sich beim spanischen Kommandanten und verlangte, zu Ramón de Cardona geführt zu werden. Man geleitete ihn zum Oberbefehlshaber, dem er einen Brief von Gaston de Foix übergab:
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