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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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eine formelle Einladung zur Schlacht. Cardona zögerte keinen Augenblick. Ohne von seinem Pferd zu steigen, gab er dem Franzosen den Brief zurück, zog sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab. Der Körper des Soldaten stand noch aufrecht auf den Beinen, da lag sein Kopf bereits mit weit aufgerissenen Augen im Schnee. »Ich nehme an«, sagte Cardona.
    Was nun folgte, waren die längsten Stunden im Leben all jener, die das Gemetzel überlebten. Und das waren nicht viele. Die Franzosen durchquerten den Fluss und drängten die Spanier bis an ihr Lager zurück. Dort bezogen sie Position und eröffneten ein Artilleriegefecht, das apokalyptische Ausmaße annehmen sollte. Die folgenden Kavallerieangriffe von beiden Seiten mündeten wiederum in einem Infanteriegefecht, in dem niemand mehr die Orientierung behielt, weil es nichts mehr zu orientieren gab. Vierzigtausend Soldaten bildeten einen gigantischen Menschenhaufen und stachen wild aufeinander ein.
    Gegen Abend, die Nebel stiegen bereits wieder aus dem Fluss auf und krochen über die Felder, starteten die Franzosen die Schlussoffensive. Die spanische Infanterie brach ein, wer noch am Leben war, versuchte, sich entlang des Flusslaufs nach Ravenna zu retten und wurde von Gaston de Foix aufgespießt, der mit einer Truppe den fliehenden Spaniern den Weg abschnitt. Bevor die Nacht hereinbrach, hatten zehntausend französische Soldaten – Gaston de Foix eingeschlossen – ihr Leben geopfert, während vom Heer der Heiligen Liga zwar Ramón de Cardona und der Papst am Leben geblieben waren, aber kaum ein Soldat. Die Heilige Liga war vernichtet, auf den Feldern südlich von Ravenna stapelten sich dreißigtausend gefallene Soldaten. Die Franzosen hatten gesiegt, der Papst war am Ende.

LIII
    Aurelio trat aus dem Laden von Petronino, bei dem Michelangelo damals die Möbel für die Bottega geordert hatte. Er war noch ganz benommen. Das Lager des Altwarenhändlers zu betreten war ihm vorgekommen, wie in ein Zeitloch zu fallen. So vieles hatte sich verändert, seit er vor vier Jahren in diese Stadt gekommen war. Im Grunde genommen alles. Die Bottega hatte sich zusammengefunden und wieder aufgelöst, die alte Peterskirche war dem Erdboden gleichgemacht, Palazzi waren erbaut, Straßen geschlagen und Kriege geführt worden. Mehr noch als diese Stadt jedoch hatte Aurelio selbst sich verändert. Petronino und sein Möbellager hingegen, so schien es, hatten die vergangenen Jahre über in einer Starre verharrt und waren erst wieder zum Leben erwacht, als Aurelio vorhin den Laden betreten hatte. Die verblichenen Farben, die Gerüche, die übereinandergestapelten Möbel, Petronino selbst, seine Haltung, die fahle Haut, die langen, grauen, zum Zopf gebundenen Haare … Aurelio hatte das Lager exakt so vorgefunden, wie er es damals verlassen hatte.
    Michelangelo hatte seinen Gehilfen gebeten, nach Trastevere hinunterzugehen und dem Altwarenhändler aufzutragen, die Betten aus dem Atelier wieder abzuholen. Seit Monaten dienten sie zu nichts anderem mehr, als Zeichnungen und Kartons darauf zu stapeln. Eine Zeitlang hatte Beato, der Fattorino, noch eines von ihnen benutzt. Letzte Woche dann war er bis auf weiteres in die Kammer von Rosselli gezogen – ein sicheres Zeichen, dass Michelangelo nicht vorhatte, seinen Florentiner Freund noch einmal nach Rom zu bitten. Sie würden sich zu Hause wiedersehen, in Florenz, sobald die Arbeit in der Sistina abgeschlossen und die Statue fertig wäre.
    Aurelio versuchte sich zu sammeln. Auch darin unterschied sich der damalige Besuch bei Petronino nicht von dem heutigen: Er hatte das Bedürfnis, den schlierigen Film, der allem in diesem Lager anhaftete, abzustreifen. Er hatte Glück. Die späte Frühlingssonne suchte sich einen Weg an San Pietro in Montorio und dem Gianicolo vorbei, wagte sich wie verstohlen in die Gassen Trasteveres vor und warf einen schmalen, leuchtenden Steg durch die Gasse, in der Aurelio stand. Er trat ins Licht, schloss die Augen, drehte sein Gesicht der Sonne zu und tat einen ausgiebigen Moment lang nichts anderes als zu sein.
    »Aurelio – bist du das?«
    Er erkannte ihre Stimme, noch ehe sie seinen Namen vollständig ausgesprochen hatte. Doch als er seine Augen aufschlug, um sie gleich darauf im Gegenlicht zusammenzukneifen, erblickte er nicht die Margherita, die er einmal gekannt hatte. Vor ihm stand eine eingesunkene Gestalt mit hängenden Schultern, über die sich ein abgewetztes Kleid spannte. Er trat in den Schatten

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