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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Uferseite. Das abendliche Zwielicht verhüllte die Wunden der Ewigen Stadt mit einem gnädigen Schleier. Margherita und Aurelio blickten zur anderen Seite hinüber wie zwei einander verschämt Liebende. Unauffällig tastete Aurelio nach dem Lederbeutel, den er zusammen mit seinem Messer unter dem Gürtel verstaut hatte. Er trug zwei Dukaten und acht Grossi bei sich, zwei Monatsgehälter. Mit so viel Geld ging er sonst nie aus dem Haus. Er hatte nach seinem Besuch bei Petronino noch zum Circus Agnonalis gehen wollen, um sich zwei neue Hemden, eine Trikothose und das grüne Samtbarett zu besorgen, das er dort neulich gesehen hatte. Seit sein Meister ihn damals hatte ausstaffieren lassen, hatte sich Aurelio kein neues Kleidungsstück zugelegt. Von dem Geld könnte sich Margherita mindestens ein neues Kleid schneidern lassen. Was war eine Frau wie Margherita ohne ein schönes Kleid? Heimlich löste er den Knoten des Lederbandes, spürte das Gewicht des Beutels in seiner Hand und zog ihn beiläufig unter seinem Umhang hervor. Als er sich zu Magherita beugte, zuckte sie kurz zusammen. Seine Wange berührte ihren Schleier. Der Duft, der ihn einst so betört hatte, war einem säuerlichen Dunst gewichen. Ohne es sie merken zu lassen, schob er ihr den Geldbeutel unter eine Kleiderfalte.
    »Gib auf dich acht«, flüsterte er.

LIV
    Julius liess seinen Stock auf den Boden krachen. Vier-, fünfmal hintereinander bohrte sich die Spitze in das Steinmosaik der Sistina. Michelangelo und sein Gehilfe sahen sich an. Dieses Geräusch hatte man lange nicht mehr vernommen. Der Bildhauer wischte sich mit dem Ärmel seiner Tunika die Farbe aus dem Bart und streckte seinen Kopf in den schmalen Spalt zwischen Wand und Arbeitsbühne.
    »Eure Heiligkeit?«
    »Maestro Buonarroti«, mühsam zitterte sich die Stimme des Papstes zur Arbeitsbühne empor, »kommt herunter, ich bitte Euch.«
    Deshalb hatte er seinen Stock benutzt: Julius war zu schwach, um noch die Stimme zu erheben. Er hatte weiterhin die Kraft, seinen Stock in den Boden zu bohren, doch seine Stimme war brüchig geworden.
    »Sofort, Eure Heiligkeit.«
    In den vergangenen Wochen hatte sich der Papst kein einziges Mal mehr nach dem Fortgang der Arbeiten erkundigt. War er früher fast täglich in der Kapelle erschienen, so blieb er jetzt, da sich das Fresko endlich der Vollendung näherte, nahezu unsichtbar. Ganz Rom rätselte über den Zustand des Papstes, der nach seiner Rückkehr aus Ravenna in der Engelsburg verschwunden und seither praktisch völlig aus dem öffentlichen Leben verschwunden war.
    Die Antwort auf die Frage nach Julius’ Zustand erhielt Aurelio, als er durch den Spalt zwischen den Planen beobachtete, wie Michelangelo und er sich gegenübertraten: Der Papst war ein gebrochener Mann. Gestützt auf seinen Stock, wirkte er in dem großen Raum völlig verloren. Er war ohne seine Leibwache gekommen oder hatte sie vor dem Eingang postiert. Michelangelo, der eigentlich kleiner und schmaler war, schien gegen ihn ein Bollwerk zu sein. Julius’ berüchtigte terribilità , die ihn früher umgeben hatte wie die Wärme das Feuer, sie war erloschen. Die Last seines eigenen Schicksals zwang ihn in die Knie.
    »Wann?«, fragte Julius, »wie lange noch?« Es klang, als bitte er Michelangelo, seinen Todeszeitpunkt zu bestimmen.
    Sicher hundertmal hatte Michelangelo diese Frage im Laufe der Jahre beantwortet, mal ausweichend, ein andermal brüsk oder gar herausfordernd. Nie aber verbindlich und niemals zögerlich. Jetzt jedoch zauderte er.
    »Ich müsste es Methusalem gleichtun«, fuhr Julius fort, ohne die Antwort seines Gegenübers abzuwarten, »wollte ich noch die Vollendung der Peterskirche erleben.« Er gab einen Laut von sich, der ebenso gut ein Lachen wie ein Stoßseufzer sein konnte. »Doch ich kann mich nicht der göttlichen Gnade anheimgeben, bevor ich nicht wenigstens das fertige Fresko gesehen habe.«
    »Dann sollte ich mir also möglichst viel Zeit damit lassen?«, entgegnete Michelangelo.
    Der Papst fixierte den Bildhauer. »Ihr seid ein störrischer Geist, Buonarroti … Früher hätte ich Euch für diesen Ausspruch meinen Stock spüren lassen.« Schwer atmend wartete er einen Moment ab. »Darin sind wir uns immer sehr ähnlich gewesen. Der störrische Geist …« Unter sichtbaren Anstrengungen richtete sich der Papst so weit auf, dass er den Blick auf die Planen unter den Arbeitsbühnen richten konnte. »Wie lange noch?«
    In diesem Moment ahnte Aurelio, weshalb sein

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