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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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und wunderlichere Gestalten waren dem Hirn des Bildhauers entsprungen. Manche erst, während er bereits die Farben in den Putz einbrachte. Dann fügte er sie ohne jede Vorzeichnung in die Giornata ein. Die letzte Schöpfungsszene, die Scheidung von Licht und Finsternis, schuf Michelangelo an einem einzigen Tag, ohne jede Vorzeichnung. Eine Fläche von hundertachtzig Quadratfuß. Aurelio konnte es nicht fassen. Kaum hatte sich der Gehilfe an diesem Abend ermattet auf seine Matratze fallen lassen, hörte er, wie sein Meister das Haus verließ, um zu seiner geheimen Werkstatt zu eilen.
    Michelangelos Ideenreichtum schien keine Grenzen zu kennen. Er schuf Ignudi von überirdischer Schönheit und makellosen Proportionen, Gott, der aus dem Himmel kommend drohend auf den Betrachter herniederfuhr, aber auch Dämonen und missgestaltete Fratzen, wie sie Aurelio bis dahin nur auf den Schreckenszeichnungen in Michelangelos Schlafkammer erblickt hatte. Alles andere – die Möglichkeit, dass Aphrodite doch noch entdeckt werden könnte, der kritische Zustand des Papstes, die Gefahr durch die Franzosen, die sich häufenden Briefe aus Florenz – weigerte er sich zur Kenntnis zu nehmen.
    Mit Boas, den Michelangelo auf der vorletzten Lünette vor der Altarwand platzierte, stritt sich der Bildhauer am häufigsten und am ausgiebigsten. Er hatte dem Urgroßvater Davids, der im Alten Testament als wohlhabender, aber großzügiger Mann von samariterhaftem Wesen dargestellt wurde, einen krummen Rücken, eine hässliche Fratze mit vorspringender Nase und einen langen, grauen Bart verliehen. Der Knauf des Stocks, den er umfasst hielt, hatte dieselbe Fratze wie sein Besitzer und keifte Boas auf dieselbe Weise an wie dieser ihn. So war Boas, der Michelangelos Nase hatte und Julius’ Bart trug, auf ewig in einem Streit mit sich selbst gefangen.
    »Was ist das für ein Gefühl«, begrüßte Michelangelo die von ihm geschaffene Kreatur, kaum dass er morgens die Bühne betreten hatte, »jeden Tag aufs Neue seine eigene Ungestalt erblicken zu müssen? Kein gutes? Tja – so ist das eben …«
    Zuletzt hatte der Bildhauer sich selbst an der Decke verewigt, als Jeremia. Schließlich, so hatte er die Entscheidung vor seinem Gehilfen gerechtfertigt, sei in den Blutbahnen des Propheten dieselbe Menge schwarzer Galle gekreist wie in seinen, Michelangelos. Der Jeremia war größer als alle anderen Figuren zuvor. Und trauriger.
    Auch an ihn richtete Michelangelo gelegentlich das Wort: »Das ist unser Los«, tröstete er den Riesen, »Leid zu erdulden.«
    Er konnte noch nicht wissen, wie sehr sich seine Worte bewahrheiten würden.

LV
    Aurelio schreckte auf. Er musste kurz eingenickt sein. War da ein Geräusch gewesen? Er blickte zu Michelangelo hinüber, der im Widerschein zahlloser Kerzen vor der Statue stand. Er hatte einen Lichterkranz um Aphrodite errichtet. Aurelios Blick fiel auf die Raspel, die Michelangelos Hand entglitten und zu Boden gefallen sein musste. Jetzt lag sie zu Füßen seines Meisters, der keinerlei Anstalten machte, sie wieder aufzuheben. Er bewegte sich überhaupt nicht, sondern stand nur wie versteinert da.
    »Maestro?«
    Aurelio bekam keine Antwort. Als habe Michelangelo sich auf wundersame Weise aus seinem Körper verflüchtigt und lediglich die Hülle zurückgelassen.
    Aurelio erhob sich. »Maestro?«
    Zögerlich ging er zu seinem Meister und schob das Gesicht in dessen Blickfeld. Zwei schmale Rinnsale zogen sich an Michelangelos marmorgepuderter Nase vorbei und versickerten in seinem von glänzendem Staub bedeckten Bart. Tränen. Wann hatte es das je gegeben? Vor Verlegenheit fiel Aurelio nichts anderes ein, als die Raspel aufzuheben. Er hielt sie Michelangelo hin.
    »Maestro?«
    Noch immer ließ der Bildhauer keine Regung erkennen. Nur seine schweren Tränen rollten weiterhin die Wangen hinab.
    »Was ist mit Euch?«
    Endlich nahm Michelangelo seinen Blick von der Statue: »Ich finde keine Stelle mehr, an der ich die Raspel ansetzen könnte, ohne Unheil damit anzurichten. Ich fürchte, Aphrodite hat sich für immer von mir gelöst.«
    Gemeinsam traten sie zwei Schritte zurück. Aurelio durchfuhr die Erkenntnis wie der Stich eines Skorpions: Sein Meister hatte recht! Durch die Arbeit mit der an der Stirn entspringenden Bogenlampe war stets nur der Teil, an dem Michelangelo gerade gearbeitet hatte, an die Oberfläche von Aurelios Wahrnehmung gestiegen. Nun aber, im Licht der sie umgebenden Kerzen, nahm zum ersten Mal die

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