Der Sixtinische Himmel
notiert und vergessen, wo. »Vielleicht wollte er Julius’ Standhaftigkeit auf die Probe stellen … Oder deine …«
Wieder füllten sich Michelangelos Worte nicht mit Bedeutung. Stattdessen begann Aurelio, langsam die Statue zu umkreisen und dabei jeden Blickwinkel zu erkunden. Etwas, das ihm zuvor bereits aufgefallen war, erregte seine Aufmerksamkeit. Anders als Julius’ Kurtisane hatte die marmorne Aphrodite markant vorstehende Schulterblätter.
»Es sind die Stümpfe ihrer Flügel«, erklärte Michelangelo. »Ohne zu wissen, warum, habe ich sie stets als einen gefallenen Engel gesehen.«
»Sie beherrscht jeden, der ihr unter die Augen tritt.«
»Und doch ist sie verzweifelt.«
»Wie kann das sein?«, ging Aurelio endlich auf die Antwort seines Meisters ein.
»So ist der Mensch. Das ist das Göttliche in uns.«
»Ihr meint, das Göttliche in uns offenbare sich im Zwiespalt?«
Michelangelo ließ seinen Kopf sinken. »Wie sonst sollten wir je von der Stelle kommen?«
* * *
»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte Aurelio.
Sie waren auf dem Weg zurück zur Piazza Rusticucci. Erste Farben hoben sich aus dem Grau. Noch schlief die Stadt. Nur drei frühe Möwen kreisten über der Ripetta. Und wie immer lungerten an jeder Ecke Katzen herum.
»Du meinst die Statue?«
Aurelio nickte.
»Nun: Ich werde sie in sehr viele Wolldecken einwickeln und mit zurück nach Florenz nehmen, sobald ich dieser Stadt endlich den Rücken kehren kann. Was danach wird …«
Aurelio zuckte unwillkürlich zusammen. Was war mit Aphrodite, Julius’ Kurtisane? Schließlich hatte sie ihm den Auftrag erteilt und nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie das fertige Werk für sich beanspruchte. Michelangelo und Aurelio erreichten den Ponte Sant’Angelo. Der Himmel war wolkenlos. Die aufsteigende Sonne tauchte die Zinnen der Engelsburg in verheißungsvolles Morgenlicht. Michelangelo sah es nicht. Wie üblich hatte er seinen Blick auf das Pflaster geheftet.
»Ich verrate dir etwas, Aurelio. Ich hatte nie vor, die Statue aus der Hand zu geben.«
»Aber was ist mit … Sie wird auf die Herausgabe bestehen.«
Michelangelo schien das nicht zu kümmern. In Gedanken war er ganz woanders. »Mein Schicksal und das der Statue sind untrennbar miteinander verknüpft«, stellte er fest.
Erst als sie auf der anderen Tiberseite angekommen waren, fand Aurelio seine Sprache wieder. »Ich vermag mir nicht vorzustellen, was geschehen wird, wenn sie erst ans Licht darf«, sagte er. Es war klar, dass damit nur die Statue gemeint sein konnte.
»Ich zweifle daran, dass sie so bald welches erblicken wird«, erwiderte der Bildhauer. »Mein Gefühl sagt mir, dass ihr Los ein Leben im Verborgenen sein wird.«
»Aber sie will …«, setzte Aurelio an.
»Wir wollen alle«, knurrte Michelangelo und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, »und können doch nicht.«
Bis sie zu Hause ankamen, war Michelangelo vollkommen in Gedanken versunken. Statt in seine Kammer hinaufzugehen, setzte er sich im Atelier auf einen Schemel und blickte stumm in den Hof hinaus. Mit den auf den Oberschenkeln abgestützten Armen erinnerte er Aurelio an den Jeremia, den er kürzlich fertiggestellt hatte. Im Herzen krank, dachte Aurelio. Er verstand seinen Meister nicht. Hätte er nicht von Hochgefühl erfüllt sein müssen angesichts der fertigen Statue? Wie auch immer: Aurelio hatte das deutliche Gefühl, ihn jetzt nicht sich selbst überlassen zu dürfen. In Momenten wie diesem war Michelangelo seinem selbstzerstörerischen Dämon hilflos ausgeliefert. Also lehnte sich Aurelio gegen die Wand und versuchte, ihn nicht zu stören und ihm gleichzeitig das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein.
»Wie soll ich jetzt weitermachen?«, fragte der Bildhauer urplötzlich in den anbrechenden Tag hinein. Er erhob sich, trat vor den Marmorblock, der seit Jahren unbearbeitet an der Längswand stand, legte seine Hände darauf und ließ erneut den Kopf sinken. Mit Schrecken bemerkte Aurelio, dass Michelangelos Arme zitterten. »Ich habe Angst, Aurelio.« Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »Es gibt Dinge, Aurelio, für die muss ein Künstler – und sei er noch so begabt – dankbar sein, wenn sie ihm ein einziges Mal im Leben gelingen. Und in dem Moment, da dies geschieht, weiß er das. Alles, was danach kommt, ist vergebenes Streben nach vergangener Größe.«
LVI
Die Fläche zwischen den Pendentifs über der Altarwand war die letzte weiße Stelle des Gewölbes. Sie befand
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