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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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gesamte Aphrodite Gestalt an. Und so wurde es offenbar: Sie war vollendet. Nach ungezählten Nächten, in denen Michelangelo ihr Fingerbreit für Fingerbreit den überschüssigen Stein von der Haut gekratzt hatte, Nächten, in denen Aurelio hatte miterleben dürfen, wie seine unerreichbare Sehnsucht aus dem Marmor auferstanden war, Nächten, in denen er mit unstillbarem Hunger verfolgt hatte, wie jeder noch so kleine Schlag mehr von ihr zum Vorschein gebracht hatte, war sie jetzt, in dieser Nacht, endlich zum Leben erwacht. Jedes weitere Gran Marmor, das man von ihr entfernte, könnte sie nur verstümmeln.
    Ihr Schleier hätte zarter nicht sein können. Ein Lufthauch konnte ihn aufblähen. Ihre sinnlichen Lippen, ihr Hals, ihre Schlüsselbeine, sogar ihre Haare – man konnte sie sehen, durch den Stoff hindurch, sie anfassen, riechen. Ihre zarten und dennoch üppigen Brüste mit den aufgerichteten Warzen … Ein flüchtiger Blick genügte Aurelio, ihre Festigkeit zu spüren. Am meisten jedoch ließ den Betrachter verstummen, was nicht unmittelbar zu greifen war: der Zwiespalt, die Zerrissenheit. Aphrodites Hände, die unter dem Schleier hervorkamen: Die eine hielt sie auf der Erde, die andere zog sie gen Himmel, die eine wehrte den Betrachter ab, die andere gierte nach Berührung.
    Einen schrecklichen Moment lang glaubte Aurelio tatsächlich, sich die Finger ihrer sehnsüchtig nach oben gereckten Hand bewegen zu sehen, meinte, ihre Haut auf seiner Haut zu spüren, ihren Atem auf seiner Wange zu fühlen. Sie anzusehen war eine wollüstige Qual, ein Schmerz, der genüsslich den Köper in Besitz nahm, bis auf die letzte Faser, und ihn für alles andere unempfänglich machte. Dieser Schmerz war Michelangelos Schmerz. Das war die nächste Erkenntnis, die sich in Aurelio Bahn brach. Es war das Leid seines Meisters, das für immer in dieser Statue brennen würde. Er hatte nicht nur Julius’ Kurtisane, sondern auch sein eigenes Verlangen unsterblich gemacht. Mehr noch: Michelangelo hatte es verstanden, seinem eigenen Schmerz eine Bedeutung zu verleihen, die ihn über sich selbst emporhob. Aphrodite trug die Sehnsüchte und Begierden aller Menschen in sich. Jeder Betrachter würde sich in ihr wiederfinden, sich von ihr entlarvt fühlen.
    Aurelio sank auf seinen Schemel. Sein Meister tat es ihm nach. Erst nach einer Weile konnte er sich dazu bringen, die Statue in ihrer Ganzheit zu betrachten. Und schon offenbarte sich der nächste Zwiespalt: Sie war, wie Michelangelo ihm erklärt hatte, nur um ein Zehntel größer als die wirkliche Aphrodite. Dennoch schien sie, gemessen an der Realität, riesig zu sein. Ihre Präsenz war beklemmend, so sehr vereinnahmte sie den Raum und drängte aus ihm heraus. Zugleich war sie all ihrer Gravitation enthoben und hätte eigentlich unter ihrer Last zusammenbrechen müssen. Doch sie tat es nicht. Das ganze Gewicht ihres nach Erlösung strebenden Körpers bündelte sich in zwei Punkten: den Zehen ihres rechten Fußes und dem Schleier, der drei Handbreit vor diesem Fuß flüchtig den Boden berührte. Auf diesen handtellergroßen Flächen fußte die gesamte Statue – ein fortwährender Balanceakt, der ihr eine nicht mehr steigerbare Dynamik verlieh. Ein einziger Schlag hätte sie für immer zu Fall gebracht. Nie zuvor hatte es ein Künstler vermocht, dem Stein mehr von seinem Gewicht zu nehmen. Hätte sich Aphrodite tatsächlich vom Boden gelöst, Aurelio hätte es ohne Verwunderung zur Kenntnis genommen.
    Er stand auf und trat an die Statue heran. Als er sein Gesicht dem ihren näherte und sah, wie sich ihre weichen Lippen durch den Schleier wölbten, verlangte es ihn danach, sie zu berühren. Zu seiner eigenen Überraschung jedoch erwies sich die letzte Handbreit vor ihrem Gesicht als unüberwindbar. Er vermochte nicht, Aphrodite tatsächlich die Finger auf die Lippen zu legen.
    »Merkwürdig, nicht?«, hörte er die Stimme seines Meisters. »Auch ich wage es kaum mehr, sie zu berühren. Solange ich noch damit beschäftigt war, sie aus ihrem Korsett zu befreien, kannten meine Hände keine Scheu. Doch jetzt … Auch die Aphrodite der alten Griechen hat sich gegen ihren Schöpfer aufgelehnt, wusstest du das? Doch es kam sie teuer zu stehen.«
    Aurelio hörte ihn kaum. Zu sehr war er im Bann der Statue gefangen. Noch immer seine Hand vor ihrem Gesicht, fragte er: »Weshalb hat Gott eine solche Versuchung erschaffen?«
    Michelangelo blickte sich im Schuppen um, als habe er die Antwort irgendwo

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