Der Sixtinische Himmel
Meister so zögerte. Er hatte Mitleid. Vor Michelangelo stand der mächtigste Mann der Welt, und wie der Bildhauer, so hatte auch der Papst eine Lebensaufgabe, eine göttliche Mission: Italien zu einem einheitlichen Kirchenstaat zu formen. Im Unterschied zu Michelangelo allerdings war Julius’ göttlicher Auftrag gescheitert, und er selbst war an seinem Scheitern zerbrochen. Dieses Bewusstsein verlieh dem Bildhauer die Größe, Mitleid für den so oft gescholtenen und ihm verhassten Papst aufzubringen. Das Wissen um die eigene Überlegenheit milderte seine Bitterkeit und ließ die hundert Marmorblöcke auf dem Petersplatz, die körperlichen Entbehrungen und seelischen Leiden der vergangenen Jahre vorübergehend in den Hintergrund treten.
»Eure Heiligkeit«, der Bildhauer verneigte sich tiefer als notwendig, »das Fresko steht kurz vor seiner Vollendung. Nur der Jonas fehlt noch. Er wird der krönende Schlusspunkt sein. Ich bitte Euch: Habt noch ein wenig Geduld.«
»Ein wenig habe ich noch«, gab Julius zurück.
»Ich danke Euch«, sagte Michelangelo, und die Wärme seiner Stimme bezeugte die Ehrlichkeit seiner Worte.
* * *
Wie alle Bewohner der Ewigen Stadt war auch Michelangelo nach der Kunde der verlorenen Schlacht bei Ravenna von großer Sorge erfüllt gewesen. Gaston de Foix hatte seinen Soldaten versprochen, im Falle eines Sieges nach Rom zu ziehen, ihnen die Stadt zum Geschenk zu machen und einen französischen Papst wählen zu lassen. Was das bedeutete, konnte sich Michelangelo allzu leicht ausrechnen. Sie hatten in Bologna seine Bronzestatue zerstört und zu einer Kanone umgeschmolzen. Selbst wenn sie sein Fresko unangetastet ließen: Es gab keinen Grund anzunehmen, dass sie ihn, der über Jahre in Julius’ Diensten gestanden hatte, am Leben lassen würden. Giuliano da Sangallo, der ihm immer wohlgesinnt war, suchte den Bildhauer in der Kapelle auf und riet ihm, die Stadt zu verlassen. Wäre er, Sangallo, nicht im gleichen Alter wie der Papst, er wäre längst fort. Viele hätten inzwischen ihr Hab und Gut in Sicherheit gebracht und sich davongemacht.
Michelangelo strich sich durch seinen mit Farbe besprenkelten Bart und nickte nachdenklich. »Verehrter Giuliano: Seht Euch das an.« Er beschrieb eine ausladende Geste, die das Gewölbe einfangen sollte. »Das Fresko steht kurz vor der Vollendung. Vier Jahre Arbeit und Entbehrung. Und ich soll es im Stich lassen und mich davonstehlen wie ein Dieb, ihm den Rücken kehren, ehe ich es vollendet habe? Was würdet ihr an meiner Stelle tun?«
Sangallo blickte seinen Freund mit der ihm eigenen Warmherzigkeit an: »Ich würde die Stadt verlassen. Ihr seid jung, Michelangelo, Ihr könnt noch so vieles schaffen …«
»Dieses Fresko ist die Aufgabe, die Gott mir anvertraut hat. Eine Arbeit, die ich um keinen Preis der Welt ausführen wollte. Und dennoch …« Seine Nase stieß ein langgezogenes Pfeifen aus. »Julius mag an seiner Aufgabe gescheitert sein. Ich aber werde meinen Schöpfer nicht enttäuschen. Wer mich davon abhalten will, dieses Fresko zu Ende zu bringen, wird mir den Kopf abschlagen müssen.«
* * *
Seither waren einige Monate vergangen, und die erhitzten Gemüter hatten sich beruhigt. Nach der verlustreichen Schlacht bei Ravenna schien den Franzosen der Hunger auf mehr vergangen zu sein. Zu teuer hatten sie ihren Sieg erkaufen müssen. Zudem hatte de Foix zwar noch das Hochgefühl des sicheren Sieges erleben dürfen, jedoch nur, um am Ende des Tages doch noch erschlagen zu werden. Die französische Armee war also ihrer Galionsfigur beraubt worden. Bis der Sommer Einzug hielt, schien klar, dass Ludwig das Haupt der Welt vorerst verschonen würde. Julius zog aus der Engelsburg zurück in den Papstpalast, und die reichen Römer, die sich ins Umland geflüchtet hatten, bezogen wieder ihre Stadtvillen.
Michelangelo hatte in der Zwischenzeit mit gieriger Eile seine Arbeiten vorangetrieben. Sein wütender Eifer grenzte zuweilen an Irrsinn. Sein gesamtes Leben unterwarf er der Aphrodite und der Decke der Sixtinischen Kapelle. Die Statue hielt ihn in gleichem Maße in Rom wie das Fresko. »Niemals könnte ich die Stadt verlassen«, gestand er seinem Gehilfen eines Nachts, »solange sie unfertig in diesem Schuppen herumsteht.«
Tagelang verzichtete er auf jeden Schlaf und saß der Aphrodite oft stundenlang in stummer Versenkung gegenüber. Mit den Figuren des Freskos führte er dagegen heftige Zwiegespräche. Überhaupt: die Figuren. Immer neue
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