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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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sich mittig über dem Altar, im Sancta Sanctorum, und lag dem Eingang direkt gegenüber. Jeder, der die Kapelle betrat, würde als Erstes seinen Blick auf diese Fläche richten; während der Messe würden die Gläubigen zu dieser Stelle emporblicken; wann immer der Papst seinen Thron bestieg, würde das, was dort zu sehen war, über ihm schweben, einer höheren Instanz, einem moralischen Gewissen gleich.
    Aurelio drehte sich in Richtung des Eingangs und fand sich in einem magischen, farbenprächtigen, vor Figuren überbordenden Tunnel wieder. Er blickte auf vier Jahre entbehrungsreicher Arbeit zurück. Michelangelo jedoch blickte nicht nach hinten. Er starrte die letzte weiße Fläche an, die im klaren, weißlichen Oktoberlicht unbarmherzig hervortrat und sich über ihn spannte, als wolle sie ihn verschlingen. Jonas. Ihn hatte Michelangelo für die Fläche vorgesehen. Der Prophet hatte sich Gottes Anweisung widersetzt und dessen Zorn auf sich gezogen, durfte aber durch Einsicht, Schuldeingeständnis und Läuterung Gottes Gnade erfahren und bekam eine zweite Chance, seinen Auftrag doch noch auszuführen. Welche Figur hätte geeigneter sein können, den Gläubigen und vor allem dem Papst den Pfad des Glaubens aufzuzeigen?
    Beim Gedanken an das, was sein Meister mit der Fläche vorhatte, wurde Aurelio ganz schwindelig. Auf dem benachbarten Pendentif, dem segelartig geformten Dreieck, das in den Winkeln den Gewölbeansatz bildete, hatte er nicht weniger als ein Dutzend ineinander verschlungener Gestalten untergebracht, und selbst die würden vom Boden der Kapelle aus mühelos erkennbar sein. Jetzt sollte eine einzige Figur, der Jonas, den gesamten Raum für sich beanspruchen, größer noch als der Jeremias, größer als die Libysche Sibylle, größer als jede Figur, die jemals in einem Fresko gemalt worden war. Und als sei das noch nicht Herausforderung genug, sollte sich dieser sitzende Jonas nach hinten lehnen, während sich die Fläche in die entgegengesetzte Richtung, also dem Betrachter zuneigte. Den Oberkörper sollte er dabei nach rechts, den Kopf aber nach links drehen.
    »Fällt Euch nicht noch etwas ein, wodurch Ihr Euch die Arbeit erschweren könntet?«, fragte Aurelio, nachdem Michelangelo ihm den Entwurf dargelegt hatte.
    »Du hast recht«, antwortete der Künstler nach kurzer Überlegung, »ich werde ihn die Beine spreizen lassen.«
    Die Pendentifs zur Rechten und zur Linken hatte Michelangelo mit zwei Bibelszenen ausgestaltet: der Kreuzigung Hamans und dem Moses mit der ehernen Schlange. Beide Fresken zeigten Tableaus von größter Komplexität und Figuren in kaum zu meisternden Positionen, für die Aurelio stundenlang in den unmöglichsten Stellungen hatte ausharren müssen. Wer glaubte, dass die erste Hälfte des Gewölbes den Bildhauer auf der Höhe seines Könnens gezeigt hatte, der würde beim Anblick dieser Szenen von einem wilden Schwindel erfasst werden. Auch ein Unkundiger würde auf den ersten Blick erkennen, was für eine Entwicklung Michelangelo hinter sich gebracht hatte von der ersten Szene, der Sintflut, bis zum Moses mit der ehernen Schlange. Niemals hätte sich Michelangelo vor vier Jahren an ein solches Tableau gewagt, und schon gar nicht auf einer derart kompliziert gewölbten Fläche. Nun aber zeigten seine handwerklichen Fähigkeiten seiner Phantasie keinerlei Grenzen mehr auf. Was immer er ersann, er konnte es umsetzen. Und der Jonas, die letzte und größte Figur des gesamten Freskos, sollte für alle Künstler, die ihm nachfolgten, das Maß der Dinge darstellen. Wer etwas schuf, das dem Jonas ebenbürtig wäre, der hätte den Punkt erreicht, von dem man nicht weiter aufwärtssteigen konnte.
    Michelangelo rieb die Handflächen gegeneinander, sog die Luft ein und ließ sie geräuschvoll durch die Nase entweichen. Aurelio kannte dieses Ritual nur zu gut und wusste, was es bedeutete: Angriff.
    Der Gehilfe nahm sich den ersten Mörser: »Was werdet Ihr brauchen?«
    »Zunächst: die liturgischen Farben der heiligen Messe.«
    »Grün und Violett«, antwortete Aurelio.
    Michelangelo trat vor die frisch in den Putz geritzten Umrisslinien. In Gedanken war er bereits bei der Ausführung. »Grün und Violett«, murmelte er. Und dann: »Diese Linien behindern mich mehr, als dass sie mir helfen. Ab morgen arbeiten wir ohne Karton.«
    Aurelio betrachtete die weiße Fläche. In den vergangenen Jahren hatte er seinen Meister immer wieder Wunder vollbringen sehen. Er würde auch dieses vollbringen.

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