Der Sixtinische Himmel
all den Rivalitäten und Streitereien, die Matteo und er zwei Jahrzehnte lang ausgetragen hatten, nie hätte es einer von ihnen so weit kommen lassen, den anderen zu verachten.
* * *
So kam es, dass Aurelio der Erste war, der das fertige Fresko in seiner Gesamtheit erblicken durfte, nachdem der Zimmermann und seine Gehilfen die Kapelle verlassen hatten. Es hatte bis lange nach Sonnenuntergang gedauert, bevor die letzte Bühne abgebaut und alle Hölzer an der Seitenwand aufgestapelt waren. In der Zwischenzeit hatte Paris de’ Grassi die Fackeln an den Wänden entzünden lassen. Morgen, zum Vespergottesdienst, würde der Papst mit seinem Gefolge kommen. Bis dahin müssten sie die Hölzer nach draußen geschafft und alles gesäubert haben. Übermorgen dann, an Allerheiligen, sollte ganz Rom die Fresken erblicken dürfen. Jetzt jedoch war es Nacht. Kein Laut drang in die Kapelle. Nur das Rauschen der Fackeln war zu vernehmen. Die kühle Herbstluft trug bereits das Wissen um den kommenden Winter mit sich. Das Jahr kam zur Ruhe. Die dunkle Zeit begann.
Die Flammen züngelten die Wände empor und ließen Schatten über die Fresken tanzen, die dreißig Jahre zuvor von Perugino, Botticelli, Ghirlandaio und den anderen Florentiner Meistern geschaffen worden waren. Aurelio schloss die Augen, atmete tief ein, legte den Kopf in den Nacken und schlug sie wieder auf. Dort oben, in sechzig Fuß Höhe, leuchteten in der Rätselhaftigkeit des Zwielichts die Szenen und Figuren Michelangelos in nie zuvor erreichter Pracht. Drohend und übermächtig die Propheten und Sibyllen, erhaben die Ignudi, von schmerzlicher Tiefe die Schöpfungsszenen. Aus den zwölf Aposteln, die Julius ursprünglich für die Decke vorgesehen hatte, waren dreihundertdreiundvierzig menschliche Figuren von nie gesehener Dramatik und Dynamik geworden. Jede von ihnen in einer eigenen Pose, mit einem eigenen Ausdruck, einer eigenen Geschichte, einem eigenen Schmerz. Der Eindruck war so übermächtig, dass man darüber den Verstand verlieren konnte. Aurelio breitete die Arme aus wie Schwingen und gab unbeabsichtigt einen unartikulierten Freudenschrei von sich. Was für eine Fülle! Was für ein Glanz! Was für eine Herrlichkeit!
Er betrat das Sancta Sanctorum, betrachtete den Jonas – welch ein Titan! – und die zuletzt gemalten Schöpfungsszenen, in denen sein Meister die Tableaus ganz auf die Figur Gottes reduziert hatte. Soweit Aurelio das im Halbdunkel erkennen konnte, war alles so geworden, wie sein Meister es beabsichtigt hatte. Wenn morgen der Papst mit seinen Kardinälen, mit Raffael und Bramante die Kapelle betrat, würde ihre Kritik für immer verstummen. Aurelio griff sich seine Laterne und wandte sich zum Gehen. Er musste Michelangelo davon berichten. Und er ahnte, wo er ihn finden würde: in seiner geheimen Werkstatt, in stumme Zwiesprache mit seiner Statue versunken.
Bevor er jedoch den Ausgang erreicht hatte, traten Aurelio aus dem Dunkel des Durchgangs unerwartet zwei Gestalten entgegen. Seine Laterne fiel nur deshalb nicht zu Boden, weil er die Kette um sein Handgelenk geschlungen hatte. Dort baumelte sie nun, während er noch mit dem Kribbeln in seinen Fingern kämpfte und unauffällig nach Luft rang. Wie immer war der Schreck schneller gewesen als das Erkennen. Jetzt sah er, dass auch von der Hand des einen Mannes etwas herabhing, ein Band, eine Leine! Und da tappte auch schon mit schweren Schritten der Jaguar zwischen den beiden hindurch. Der Blinde und der Stumme.
Aurelio erlangte seine Fassung wieder. »Mein Meister ist bereits gegangen«, erklärte er ärgerlich, noch ehe der Blinde das Wort an ihn richten konnte. Er sah sich um und senkte die Stimme. »Aber auch ich kann Euch versichern, dass er Euch keinesfalls zu sehen wünscht!«
Die beiden Männer zeigten sich unbeeindruckt. »Ist er es?«, fragte der Blinde den Stummen.
Der Stumme gab einen zustimmenden Laut von sich.
Aurelio verstand gar nichts. Was sollte das?
Jetzt wandte sich der Blinde ihm zu: »Seid Ihr Aurelio?«, fragte er.
Ein bestürzter Blick war alles, was der Gehilfe zu antworten imstande war. Doch offenbar war das den beiden Männern Antwort genug. Geräuschlos schoben sie sich an ihm vorbei und steuerten auf den Seiteneingang zu. Dabei warf jeder von ihnen einen kreuzförmigen Schatten über das Steinmosaik. Sie öffneten die Tür und verschwanden in dem dahinterliegenden Gang, dessen Geheimnisse Aurelio nur allzu vertraut waren. Das Türblatt ragte leicht in
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