Der Sixtinische Himmel
hielt sie inne. Ein Lufthauch hätte gereicht, den Flügel ihres Mantels zu öffnen. »Manchmal, Aurelio, glaube ich selbst, ein Dämon zu sein. Nicht einmal meinen wahren Namen kenne ich. Vielleicht hatte ich nie einen. Als ich alt genug war, um danach zu fragen, gab es niemanden mehr, der mir noch etwas über meine Herkunft hätte sagen können. Es heißt, ich sei als Baby ausgesetzt worden, irgendwo in Westafrika. Doch nicht einmal das ist gewiss …«
Fieberhaft überlegte Aurelio, wie er Aphrodite die Statue zeigen könnte. Er hätte ihr jeden Wunsch erfüllt, ob mit Einwilligung seines Meisters oder ohne. Er war verloren gewesen in dem Moment, da sie den Raum betreten hatte. »Gibt es eine Möglichkeit für Euch, unerkannt den Palast zu verlassen?«, fragte er.
»Den Weg, den du gekommen bist«, antwortete Aphrodite. »Da Julius sich von Anfang an geweigert hat, diese Gemächer zu betreten, ist ihm auch der Geheimgang verborgen geblieben. Die Mauern des Vatikans jedoch bleiben mir verschlossen. Julius hat Anweisung gegeben, jede Person genauestens zu kontrollieren.«
Aurelio erinnerte sich an die beiden Soldaten der Schweizergarde, die Giovan Simone am Nachmittag in die Kapelle eskortiert hatten. »Es gibt eine Zeichnung …«, überlegte er.
Aphrodite drängte noch einen Schritt näher. Der Mantelkragen machte aus ihrem Dekolleté ein schwarz gerahmtes Dreieck fleischlicher Wollust.
»Mein Maestro hat sie angefertigt, als Vorzeichnung für die Statue«, erklärte er hastig. »Sie ist sehr … detailliert und hat … alles, was die Statue ausmacht. Auf ihr ist sie in genau der Pose zu sehen, in der mein Meister sie aus dem Marmor herausgearbeitet hat. Ich könnte …« Aurelio fasste sich an die Schläfe. Erbot er sich gerade, für Aphrodite die ausgearbeitete Kreidezeichnung zu stehlen, die Michelangelo im Geheimfach seiner Mappe versteckt hielt?
»Würdest du das für mich tun?«, fragte sie.
»Ich würde alles für Euch tun«, antwortete er ohne Zögern.
Aphrodite beugte sich vor. Ihr Mantel gab den Blick auf ihre Brüste frei, was Aurelio in gleicher Weise berauschte wie der köstlich-schmerzliche Duft, der von ihr aufstieg. Ihre blauen Augen drangen in ihn ein. Aurelio verzehrte sich danach, in ihnen zu ertrinken. Was für eine Sehnsucht, dachte er und wusste nicht einmal, dass es seine eigene war. Er spürte ihre Hand, wie sie seine umfasste und in den Schlitz ihres Mantels schob. In der Intimität des Dunkels schmiegten sich seine Finger von selbst an die Innenseite ihres Oberschenkels. Eine Haut, wie seine begabten Hände sie noch nie ertastet hatten. Eine Haut wie das Paradies – nach dem Sündenfall.
Ihr Atem streifte sein Ohr: »Komm«, flüsterte sie.
»Aber …« Aurelio spürte den Stuhl unter sich nachgeben. »Ihr liebt mich nicht.«
Ihre Stimme war körperlos, wie die eines Geistes. »Was macht das schon?«
Aurelio stiegen Tränen in die Augen, als er begriff, dass er von demselben Verlangen durchdrungen wurde, das sein Meister seit Jahren wie einen Stachel im Fleisch trug: dem Verlangen danach, von seinem Gegenüber geliebt zu werden. »Aber Ihr liebt meinen Meister«, beharrte er in einem letzten, verzweifelten Versuch, Herr seines Willens zu bleiben.
»Ja«, hauchte Aphrodite in sein Ohr, »und er liebt dich, und du liebst mich. Fast ist es zum Lachen …«
Sie führte ihn durch eine Reihe von ineinander übergehenden Räumen. Wie im Flug zogen silberne Kandelaber an Aurelio vorbei, er sah Bronze- und Elfenbeinarbeiten, golddurchwirkte Wandteppiche. Lass mich nicht los, dachte er, lass mich nicht fallen. Die letzte Tür, die Aphrodite aufstieß, war von zwei marmornen Putten flankiert, einer weiblichen und einer männlichen. Beide spielten mit ihren entblößten Geschlechtsteilen.
»Julius hat eine Vorliebe für … ach, für alles Mögliche«, erklärte Aphrodite.
Der Saal war quadratisch und größer als die anderen. Ein neuer Duft umfing ihn, nach Orangen und Pinien und Dingen, die er nie zuvor gerochen hatte. An der Wand gegenüber der Tür stand das von Kandelabern umrahmte Bett wie ein Altar. Über Aurelios Kopf spannte sich ein Himmel aus Blau und Gold: eines der vielgerühmten Fresken Pinturicchios, die dieser für Julius’ Vorgänger Alexander angefertigt hatte. Gestalten voller Anmut und Haltung. Gegen die Figuren jedoch, die Aurelio vorhin in der Sistina betrachtet hatte, wirkten sie wie ausgestopfte Puppen.
»Hier lebt Ihr?«, staunte Aurelio.
»Hier
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