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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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den Raum hinein. Mit erhobener Laterne ging Aurelio ihnen nach.

LVIII
    Als Aurelio durch die Öffnung des Teppichs spähte, war es, als tauche er in einen altbekannten Traum ein: die schweren, malachitfarbenen Samtvorhänge, der Kamin mit dem Marmorsims, der lederbezogene Stuhl mit seinen goldenen Tigerpranken anstelle von Holzbeinen. Auch der Duft war da, schwer und sinnlich, die schwarzen Rosen, und die Wände badeten im bronzenen Licht zahlloser Kandelaber. Lediglich Aphrodite fehlte. Kurz streifte Aurelio ein Gedanke: War dies eine Falle? Sollte er in den Gemächern der Kurtisane angetroffen werden, damit man einen Vorwand hatte, ihn blenden oder gar töten zu lassen? Doch wer sollte ein Interesse daran haben? Es ergab keinen Sinn. Warum war er hier? Vorsichtig schob er sich an der Wand entlang und wagte sich hinter dem Teppich hervor. Der üppige Prunk, die satte Wärme und der betörende Duft – sie umfingen Aurelio wie ein vielstimmiger Chor engelhafter Stimmen. Benommen führte er seine Hände an die Stirn.
    Plötzlich öffneten sich die Türen zum benachbarten Gemach. Aphrodite trug einen bodenlangen Samtmantel von dem gleichen Schwarz und dem gleichen Glanz wie ihr wallendes Haar. Beides schien von goldenem Raureif überzogen zu sein. Als Aurelio den nackten Fuß bemerkte, der unter dem Saum hervorsah, wusste er, dass der Mantel das Einzige war, das ihre Haut bedeckte. Wie der Schleier der Statue. Sie schloss die Türen hinter sich und fing Aurelio mit ihren durchdringend blauen Augen ein. So standen sie einander gegenüber, schweigend, jeder auf einer Seite des Raums.
    »Du hast es gewusst, nicht wahr?«, sagte sie schließlich. Auch ihre Stimme war die aus seinen Träumen geblieben. Eine Mischung aus Zimt und Leder.
    »Seit dem Abend …« Aurelio erinnerte sich an die Nacht, in der Aphrodite nackt vor dem Wandbehang gestanden hatte, die Beine gespreizt, ihre und seine Hände nur durch den Teppich voneinander getrennt. »Ihr wisst, seit wann«, schloss er.
    Sie traumwandelte auf ihn zu. Ihr geheimnisvoller Duft stieg ihm unausweichlich in die Nase und breitete sich in seinem Körper aus. Er atmete sie ein. Tief auf dem Grund ihrer Lapislazuliaugen verbarg sich etwas: eine seltsame Traurigkeit. Ein Abschied?
    Langsam führte sie ihre Finger an seine Wange: »Du also bist das, was ich so gerne gewesen wäre …«
    Aurelio schluckte.
    »In dir«, fuhr sie fort und legte den Kopf auf die Seite, »in dir erblickt er all das, worin er sich so gerne spiegeln würde: Reinheit, Schönheit …«
    »Warum bin ich hier?«, stieß Aurelio hervor.
    »Weil ich es so will.«
    Aurelio antwortete nicht. Noch immer verstand er nichts von alldem. Zudem spürte er dieses Verlangen in sich aufsteigen, das noch jedes Mal seinen Verstand unbrauchbar gemacht hatte.
    Beiläufig angelte sie mit dem Fuß nach einer Tigerpranke des Ledersessels und drehte ihn in Richtung des Kamins. Anschließend bedeutete sie Aurelio, sich zu setzen. Sie selbst ging zur Feuerstelle hinüber.
    Den Blick in die Flammen gerichtet, sagte sie: »Erzähl mir von der Statue.«
    War er deshalb hier, um ihr von der Statue zu berichten? »Sie ist vollkommen«, flüsterte er und spürte sein Verlangen auf ein Maß anschwellen, das ihm körperliche Schmerzen bereitete.
    »Er hat sie vollendet?«
    Aurelio nickte. »Da ist niemand, der nicht seinen eigenen Abgrund in ihr erblicken würde – und den Abglanz seiner göttlichen Seele. Mein Maestro hat Euch wahrhaft unsterblich gemacht.«
    Als Aphrodite sich zu Aurelio umdrehte, versuchte sie nicht einmal, ihren Schmerz zu verbergen. »Ich wünschte so sehr, sie sehen zu können«, fing sie an, »und sei es nur ein einziges Mal.« Ihr Blick richtete sich nach innen. Alle Fassade war verschwunden. Ihre Finger suchten nach einem Halt und fanden einander. »Seit wir aus Ravenna zurückgekehrt sind, habe ich kein einziges Mal meine Gemächer verlassen dürfen. Julius hat an jedem Ausgang ein Dutzend Wachen postiert. Niemand kommt herein, niemand heraus. Nicht einmal er selbst. So hofft er, sich vor mir zu schützen. Seit der Schlacht glaubt er, der Teufel habe mich geschickt. Er ist überzeugt, ich sei ein Dämon, der von ihm Besitz ergriffen und ihn um den Verstand gebracht habe. Und der ihm außerdem vor der entscheidenden Schlacht den falschen Rat gab …« Sie löste sich vom Kamin und bewegte sich auf Aurelio zu. Der Samt ihres Umhangs schmiegte sich lautlos um ihre nackten Hüften. Zwei Schritte vor ihm

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