Der Sixtinische Himmel
sterbe ich«, entgegnete Aphrodite, »jeden Tag ein Stück.«
Er beobachtete die Kurtisane, wie sie zum Bett hinüberging, wie sie durch den Raum schwebte, ohne dabei den Boden zu berühren; wie ihre Bewegungen den Mantel in eine seidige Flüssigkeit verwandelten. Ihrem Körper entstieg eine Kraft, die die Flammen der Kerzen erzittern ließ. Jeder Gegenstand im Raum unterwarf sich ihr. Als sie den Hermelinbesatz der Überdecke berührte, glitt diese scheinbar von selbst zu Boden.
»Also ist es wahr, was man sich erzählt«, flüsterte Aurelio.
»Das Bett, meinst du.«
»Aus Gold, mit Füßen aus Elfenbein. Und darüber ein Baldachin aus …« Aurelio streckte seine Hände vor. Das durch den Stoff gedämpfte Licht tauchte sie in flüssigen Honig.
»Goldgewirktem Damast«, antwortete Aphrodite.
»Ihr führt ein Leben in unbeschreiblichem Luxus«, stellte er fest.
»Ich habe mir dieses Leben nicht gewählt, Aurelio«, sagte sie traurig. »Es hat mich gewählt.« Sie saß auf dem Fußende, die Beine gerade so weit gespreizt, dass die Falten ihres Mantels die Innenseiten ihrer Schenkel erahnen ließen. »Komm«, flüsterte sie, »komm her und zieh mich aus.«
* * *
Hand in Hand zogen sie sich zurück, langsam und weich, wie durch warmen Nebel – aus dem Palast, aus der Stadt, aus der Welt. Stufe für Stufe stiegen sie hinab in ein verborgenes Reich, das nichts kannte außer dem Moment, kein Morgen und kein Gestern, das nur aus sich selbst heraus Bestand hatte und nur für sich existierte. Aurelio spürte das Blut in Aphrodites Adern, hörte es Rauschen. Unter ihrer kupferfarbenen Haut vibrierte die Sehnsucht, sich zu spüren, erkannt zu werden, eine unsterbliche Seele zu besitzen, die Angst davor, zu vergehen, ohne je gewesen zu sein.
Sie lag auf ihm, umrankte ihn, schloss ihn in sich ein – bis aus Aurelio ein einziges brennendes Verlangen geworden war. Eine feuchte Hitze durchströmte ihn. Mit jeder Berührung jagten seine Fingerspitzen ihm weißglühende Blitze durch den Leib. Dann löste sich sein Empfinden endgültig von seinem Verstand, und er hätte nicht mehr zu sagen gewusst, wo sein Körper endete und Aphrodites anfing. Als er in sie eindrang, war es, als tauche er mit jeder Faser seines Körpers in sie ein, und als er kam, war es, als löse er sich in ihr auf. Aphrodites heißer Atem umhüllte sie wie ein Kokon, ihre Lippen legten den Riegel vor. Ihr Bund war besiegelt.
LIX
31 . Oktober 1512
Ungläubig befühlte Aurelio die Bettkante. Das war kein Gold. Das war altes, sprödes Holz. Hatte er die Nacht mit Aphrodite in einem verräterischen Traum verbracht? Mit geschlossenen Augen führte er seine Hand vor das Gesicht und roch daran. Nein. Kein Traum. Sein gesamter Körper war benetzt von ihrem Schweiß, ihrer Sehnsucht, dem Geruch ihrer Scham. Augenblicklich wurde er von pulsierendem Verlangen durchströmt. Er schlug die Augen auf, löste gewaltsam die Hand von seinem Gesicht und zwang sich zum Nachdenken. Seine Kammer, sein Bett. Wie war er aus Aphrodites Schlafgemach hierhergekommen?
Aurelio stöberte noch in den Erinnerungen an die vergangene Nacht, als eine erregte Stimme in seine Kammer drang. Michelangelo, aus der Küche. Dann war eine zweite Stimme zu hören. Giovan Simone! Den hatte Aurelio völlig vergessen. Ausgerechnet am Tag vor der Einweihung des Freskos tauchte der hier auf. Hastig streifte Aurelio seinen Umhang über und trat in den Vorraum. Nach dem Licht zu urteilen musste es bereits später Vormittag sein. Das Geräusch von auf die Straße prasselndem Regen war zu vernehmen.
»Nicht einen Dukaten!«, hörte Aurelio die Stimme seines Meisters.
Offenbar waren er und Giovan Simone in einen Streit geraten. Zögerlich öffnete Aurelio die Küchentür. Die beiden Brüder standen einander gegenüber, den Tisch wie einen Schlichter zwischen sich.
»Aber verstehst du denn nicht«, rief Giovan Simone, »ohne neuen Stoff …« Er hielt abrupt inne. »Was will der denn hier?«
»Komm ruhig herein, Aurelio«, sagte Michelangelo, an seinen Gehilfen gewandt, »sonst misstraue ich später meinen Erinnerungen.«
Beklommen wagte Aurelio einige Schritte in den Raum und blieb stehen.
Giovan Simone funkelte seinen Bruder zornig an: »Ich werde die Angelegenheiten unserer Familie nicht vor deinem Handlanger ausbreiten.«
»Entweder du breitest sie vor ihm aus, oder du breitest sie gar nicht aus.«
»Aber das ist …«
»Das ist deine Entscheidung«, schnitt ihm Michelangelo das Wort
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