Der Sixtinische Himmel
einzurüsten, war mit einem halben Dutzend Gehilfen angerückt, um sie jetzt wieder abzunehmen. Zum Glück erinnerte er sich noch an die Besonderheiten der Konstruktion und kam weitgehend ohne Anweisungen zurecht. Aurelio half, die Hölzer aufzustapeln. Auch seine Kräfte waren aufgezehrt, die Arme und Beine wie leere Hüllen. Sein gesamter Körper fühlte sich seltsam fremd an. Als sei das gar nicht er, der da die Balken aufschichtete. Gelegentlich wagte er einen Blick zur Decke. Dann traf ihn jedes Mal die bildgewaltige Wucht dessen, was dort zum Vorschein kam, wie der Atem Gottes selbst.
Er ging zu Michelangelo hinüber. Seine Knie knackten, als er sich vor ihn hockte. Das Gesicht seines Meisters war um Jahre gealtert.
»Maestro Buonarroti«, sagte er eindringlich, »ihr müsst das sehen! Es ist … unbeschreiblich.«
Michelangelo strich sich fahrig durch den Bart. »Lass nur, Aurelio. Ich warte, bis alles abgebaut ist.«
Er hat Angst, ging es Aurelio durch den Kopf. Er hat Angst vor seiner eigenen Arbeit – und dem großen, schwarzen Loch, in das er zu fallen fürchtet.
Michelangelo sollte nicht mehr dazu kommen, an diesem Tag noch das vollständige Fresko zu erblicken. Mitten während der Arbeiten wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Schweizergardisten eskortierten einen Mann herein, von dem im Gegenlicht zunächst nur die Silhouette erkennbar war.
» Fratello! «, schallte es durch die Kapelle.
Michelangelo fuhr auf, als sei er aus einem Traum aufgeschreckt. Er kniff die müden Augen zusammen. »Allmächtiger … Das hab ich nicht verdient.«
»Maestro Buonarroti?«, fragte einer der Gardisten.
Michelangelo hörte ihn nicht einmal.
»Dieser Herr hier behauptet, Euer Bruder zu sein.«
Die blutunterlaufenen Augen des Bildhauers hüpften flehentlich zwischen den Gardisten hin und her. »Ich würde nichts lieber tun, als ihn zu verleugnen«, erklärte er. »Doch das würde bedeuten, mich selbst zu verleugnen.« Er schloss kurz die Augen. »Lasst ihn hier …«
Giovan Simone trat zögerlich auf seinen Bruder zu und breitete die Arme aus: » Fratello! «, wiederholte er. Seine blonden Locken sprossen fröhlich unter seinem Samtbarett hervor, dessen Blau perfekt mit seinen erwartungsvoll leuchtenden Augen harmonierte.
Michelangelo verweigerte die angebotene Umarmung, führte die Hände vors Gesicht und sagte mit aller Kraft, die seiner Stimme noch verblieben war: »Was zum Teufel tust du hier?«
Der Hochmut, den Giovan Simone bei seinem letzten Besuch noch wie selbstverständlich zur Schau getragen hatte, war einer Pose gewichen, der die Unsicherheit bereits eingeschrieben war. »Aber ich habe dir doch geschrieben, dass ich komme!«
»Und ich habe dir geschrieben, dass du nicht kommst!«
Aurelio dachte an die vielen Briefe, die sein Meister in den vergangenen Monaten nach Florenz geschickt hatte: In wenigen Wochen, so hatte er sie ein ums andere Mal vertröstet, werde er nach Hause kommen, dann werde man sehen. Bis dahin durften weder sein Vater noch seine Brüder darauf hoffen, auch nur einen Fiorino von ihm zu bekommen.
»Ich konnte nicht länger warten«, entschuldigte sich Giovan Simone. »Es ging nicht mehr! Deine Arbeit hier nimmt einfach zu viel Zeit …« Er blickte zur Decke empor und erstarrte: »Heilige Mutter Gottes!« Er drehte sich benommen um die eigene Achse: »Das hast alles du gemacht?!«
Aurelio konnte sehen, wie der Zorn in seinen Meister fuhr und dessen Körper zu alter Größe aufrichtete. Dass ein Ignorant und Schmarotzer wie Giovan Simone sein Fresko auch nur in Augenschein nahm, beleidigte bereits seine Arbeit. Dieser Nichtsnutz hätte Tage und Wochen unter dem Gewölbe zubringen können und doch nicht das Geringste davon verstanden, mit dem Herzen verstanden. »Hübsche Farben«, hätte er gesagt, oder so etwas wie: »Ganz schön groß, die Figuren.« Giovan Simone sah seinen älteren Bruder an, als erwarte er Lob oder wenigstens Zuspruch für seine Beobachtung.
Aurelio hielt den Atem an.
»Raus!« Michelangelo ergriff Giovan Simone unsanft bei den Schultern und drehte ihn Richtung Ausgang. »Raus mit dir! Was ich dir zu sagen habe, gehört nicht an einen Ort wie diesen.« Bevor er seinen Bruder in den Rücken stieß, wandte er sich noch einmal zu seinem Gehilfen um. »Kannst du Sorge dafür tragen, dass hier niemand zu arbeiten aufhört, bevor das Gerüst vollständig abgebaut ist?«
»Selbstverständlich, Maestro.«
Aurelio blickte den beiden traurig nach. Bei
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