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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Michelangelo glich einer heruntergebrannten Kerze, deren Docht noch einmal in doppelter Kraft erstrahlte, bevor sie erlosch.
    * * *
    Am achtzehnten Oktober, der Jonas war zur Hälfte fertiggestellt, kehrte Michelangelo mit versteinerter Miene von seinem Gang zur Bank zurück. Er hatte extra den Gedenktag des heiligen Lukas gewählt, um die Post zu holen. Schließlich war Lukas der Schutzpatron der Künstler. Doch für Michelangelo schien das nicht zu gelten, jedenfalls nicht an diesem achtzehnten Oktober. Und auch nicht für seinen Gehilfen.
    »Post aus Florenz?«, fragte Aurelio vorsichtig.
    Michelangelo zog einen bereits erbrochenen und einen noch versiegelten Brief aus der Tasche und legte beide, als enthielten sie ein Gift, das nicht entweichen dürfe, auf dem Tisch ab. »Ja«, antwortete er, »Giovan Simone droht mir seinen Besuch an. Meine Familie scheint zu glauben, dass, solange ich in Diensten des Papstes stehe, es in Florenz Dukaten vom Himmel regnen müsse.« Er warf Aurelio einen Blick zu, der vorwegnahm, was er jetzt hinzufügte. »Doch das ist nicht, was mir Sorgen bereitet.« Mit zwei spitzen Fingern schob er den noch verschlossenen Brief über den Tisch.
    Aurelio verstand nicht.
    »Von einem Schreiber«, erklärte Michelangelo, »aus Forlì.«
    »Für mich?«
    Michelangelo ließ ein Nicken erkennen.
    Aurelio schob den Brief nachdenklich zurück. »Ihr wisst, ich kann nicht lesen.«
    Er sah den Daumen seines Meisters, wie er sich unter das Siegel schob und das Papier wölbte. Mit einem Knacken brach das Wachs auf. Auf dem Tisch sammelten sich staubfeine, rote Krümel. Michelangelo entfaltete das Blatt und begann zu lesen. Irgendwann ließ er seine Hände sinken und blickte seinen Gehilfen an, die Bernsteinaugen wie in Eisenoxid getaucht.
    »Deine Schwägerin schickt dir herzliche Grüße und hofft, dass dieser Brief dich bei guter Gesundheit erreicht …«
    Das konnte nur eins bedeuten: »Matteo …«
    Michelangelo musste die Worte gewaltsam ans Licht zerren. »Ein Unfall. Offenbar ist er von der Leiter gestürzt … Luigi hat ihn gefunden, hinter der Scheune.«
    Sein Bruder. Der letzte Lebende von seinem Blut, der ihm noch geblieben war; der sein eigenes Leben riskiert und sich den Arm gebrochen hatte, als Aurelio auf der Piazza Saffi unter einen Karren geschleudert und beinahe von einem Pferd zertrampelt worden wäre; der später, bei einem Streit, in rasendem Zorn Aurelios Kopf so lange im Wassertrog untergetaucht hatte, bis das nach Stein schmeckende Wasser Aurelios Lungen gefüllt hatte und er ohnmächtig geworden war; der ebenso großzügig wie missgünstig sein konnte und dessen liebevolle Fürsorge nur von seiner bedingungslosen Selbstsucht übertroffen worden war.
    »Ausgerechnet die Scheune …«, flüsterte Aurelio.
    Er hatte von Söldnern gehört, die kaum zu ertragende Schmerzen verspürten, in Körperteilen, die gar nicht mehr existierten, einem abgetrennten Finger etwa, oder einem abgehackten Bein. So fühlte er sich: als habe man ihm einen Teil seines Körpers amputiert, und jetzt sitze der Schmerz da, wo nichts mehr war.
    »Vergiss nie, wer du bist und wo du herkommst …«, murmelte Aurelio.
    Dann stand er auf, öffnete die Haustür und ging hinaus in das Gewirr der Gassen.

Teil VII
    LVII
    30 . Oktober 1512
    Drei Tage vor Allerheiligen hatte Michelangelo das Fresko vollendet. Gerade zur rechten Zeit. Julius hatte angeordnet, das Gerüst spätestens einen Tag vor den offiziellen Feierlichkeiten abbauen zu lassen – selbst wenn Michelangelo noch dort oben zugange wäre. Der Papst hatte das Festum Omnium Sanctorum zum Tag der Einweihung des Freskos bestimmt, und alle Einwände des Künstlers hatten ihn nicht davon abbringen können, diesen Tag auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. So hatten Michelangelo und sein Gehilfe notgedrungen am Ende zwei Tage und Nächte ohne Unterbrechung arbeiten müssen, vier nahtlos aneinandergereihte Giornate. Aurelio war schwarz geworden vor Augen, als er endlich alle Materialien abseilte und das letzte Mal die Leiter hinabstieg.
    Michelangelo saß in sich zusammengesunken auf einer der steinernen Bänke, den Oberkörper gegen die Mauer gelehnt. Weder hatte er die Kraft, Anweisungen zum Abbau des Gerüstes zu geben, noch konnte er seinen Kopf länger in den Nacken legen, um zu verfolgen, wie die zweite Hälfte des Gewölbes nach und nach enthüllt wurde. Der Zimmermann, der damals geholfen hatte, die Bühnen zu bauen und die Decke

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