Der Sixtinische Himmel
Bruder fragen.
Das brachte Aurelio wieder in die Wirklichkeit zurück. Er fixierte Giovan Simone. »Der glotzt so«, sagte er dann, während er sich vor ihm aufbaute, »weil er nicht glauben kann, dass Ihr tatsächlich die Kaltschnäuzigkeit besitzt, Euren eigenen Bruder zu erpressen!«
»Von dir lass ich mir nichts sagen, Farbenpanscher!«, rief Giovan Simone. Das wäre ja noch schöner, wenn er jetzt auch noch anfangen würde, mit dem Gehilfen seines Bruders zu diskutieren. »Wer ist denn dieser Schönling überhaupt«, fragte er Michelangelo, »dass er glaubt, mir Vorhaltungen machen zu dürfen?«
Was jetzt geschah, passierte so schnell, dass Giovan Simone nicht reagieren konnte. Mit einer katzenhaften Bewegung langte Michelangelo über den Tisch, packte seinen Bruder am Kragen und zog ihn so nah zu sich heran, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. »Dieser Schönling, wie du ihn nennst, ist mein Gehilfe. Und er hat einen Namen. Er heißt Aurelio. Und der kleine Finger seiner linken Hand ist mehr wert als deine gesamte verkommene Gestalt.« Seine Nase zischte bedrohlich. »Du kannst mich beleidigen, Giovan Simone, aber nicht ihn. Das – steht – dir – nicht – zu!«
Giovan Simone blickte verdutzt zwischen seinem Bruder und Aurelio hin und her. Dann verzog sich sein selbstgefälliger Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ooohhh – jetzt verstehe ich! Dein Gehilfe .« Er löste Michelangelos Hand von seinem Hemdkragen, verzog angewidert das Gesicht und trat so weit zurück, dass sein Bruder über den Tisch hätte springen müssen, um ihn noch einmal am Kragen zu fassen. »Ich sage dir etwas, Bruder: Was du und dein … Gehilfe miteinander zu tun habt, interessiert mich nicht. Ich brauche die achthundert Dukaten für die Stofflieferung. Und wenn du sie mir nicht freiwillig gibst …«
Bevor er den Satz beenden konnte, donnerte Michelangelos Stimme durch den Raum: »Du glaubst, ich fürchte deinen Verrat?« Er lachte schmerzlich auf. »Los, verrate mich! Lass mich töten, wenn du willst. Aber eines merke dir, und merke es dir gut: Wenn du es wagst, mein Geheimnis preiszugeben, dann wirst du derjenige sein, der es bereuen wird bis ans Ende seiner Tage.« Er nahm seinen Umhang von der Stuhllehne, förderte seinen Geldbeutel zutage und fingerte ein Geldstück heraus. »Hier«, er warf die Münze auf den Tisch, wo sie sich lange auf der Stelle drehte, bevor sie zu liegen kam. Ein Golddukaten, mit Julius’ eingeprägtem Konterfei, das stumpf in Michelangelos Küche hineinstarrte. »Das ist für deine Rückreise«, erklärte Michelangelo. »Aurelio und ich gehen jetzt in den Vatikan. Heute zum Vespergottesdienst kommt der Papst mit seinem Gefolge, um das fertige Fresko in Augenschein zu nehmen. Bis dahin wartet noch viel Arbeit auf uns. Und wenn wir heute Abend zurückkehren«, seine Miene verfinsterte sich noch weiter, sofern das überhaupt möglich war, »wirst du verschwunden sein und dich auf dem direkten Weg nach Florenz befinden!«
LX
Der Streit mit seinem Bruder hatte ihn derart aufgewühlt, dass Michelangelo nicht einmal die Muße hatte, in Ruhe die Frucht seiner bald fünfjährigen Arbeit zu betrachten. Nur wenige Augenblicke schritt er mit seinen noch tropfnassen Haaren im Sancta Sanctorum umher, dann wandte er sich Aurelio zu.
»Wenn ich bedenke, dass die Arbeit an diesem Gewölbe jetzt für immer der Vergangenheit angehören soll«, sagte er mit einer Stimme, die mit seinem Gesicht an Mattheit zu konkurrieren schien, »dann kann ich es kaum glauben. Ich weiß, dass es vorbei ist, aber ich fühle es nicht …« Beiläufig wischte er sich den Regen aus dem Gesicht und inspizierte Jonas, den er erst drei Tage zuvor vollendet hatte. »Der ist gut, oder?«
Aurelios Brauen hüpften vor Verwunderung. »Er ist … unvergleichlich, Maestro.«
Michelangelo schien über Aurelios Antwort nachzudenken. »Schön. Und jetzt lass uns die Spuren unserer Arbeit beseitigen.«
Den ganzen Tag über prasselte in dicken Tropfen der Regen aus einem bleiernen Himmel. Wann immer Michelangelo und sein Gehilfe einen Teil der Bühnenkonstruktion aus dem Seiteneingang trugen, um ihn hinter der Kapelle aufzustapeln, wurden sie ein weiteres Mal durchnässt. Beato, den Michelangelo mitgenommen hatte, um ihn den Staub beseitigen zu lassen, während er selbst mit Aurelio das abgebaute Gerüst hinaustrug, war noch mit Fegen beschäftigt, als Paris de’ Grassi in die Kapelle stolzierte, den Papst und sein Gefolge
Weitere Kostenlose Bücher