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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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hatte anlegen lassen. Sie konnte erst wenige Jahrzehnte alt sein. Die Räder der Fuhrwerke hatten kaum Spuren in das Pflaster gegraben. Aurelio kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie in das Herz der Stadt vordrangen. Wortlos bestaunte er die neuen Palazzi entlang der Straße, während die Bebauung um sie herum immer dichter wurde und in Aurelio das Gefühl auslöste, von der Stadt verschluckt zu werden.
    »Das muss sie sein«, brach Margherita das Schweigen.
    Gemeint war die Piazza Venezia. Margherita machte sich nicht einmal die Mühe, eine Richtung anzudeuten. Der Platz war über jeden Zweifel erhaben. Vor ihnen wölbte sich der Campidoglio, der Kapitolshügel, wie eine buckelnde Katze aus dem Erdreich. Auf dem höchsten Punkt wachte die Kirche Santa Maria in Aracoeli mit versteinertem Gesicht über das weltliche Treiben auf den Straßen.
    Die steinerne Tränke im Schatten des festungsartigen Palazzo Venezia war so begehrt, dass sie warten mussten, bis ein Platz für die Maultiere frei wurde. Aurelio sah sich um: So viele Menschen! Zu Füßen der Treppe lungerten Bettler in zerfetzten Lumpen, kaum zehn Stufen über ihnen standen drei sich unterhaltende Frauen in kunstvoll gearbeiteten Kleidern, deren Hermelinbesätze und Goldborten dem Treiben auf dem Platz Glanzlichter aufsetzten. Margherita warf der Gruppe einen Blick zu, der zu sagen schien: Wartet nur. Ein stechender Geruch von Kot und Parfüm hing schwer in der Luft.
    Unter den jüngeren Frauen war keine, die noch eine Haube getragen hätte. Viele hatten sich zudem die Stirnhaare sowie die Augenbrauen gezupft. Ausnahmslos alle waren geschminkt. Antonia, Aurelios Mutter, hätte sich vor Grausen abgewandt. Mit geübter Sicherheit schritten sie zwischen Kot, Straßendreck und schlammigen Pfützen einher. Ihre zierlichen Riemenschuhe schienen kaum den Boden zu berühren. Mit ihrem unbeweglichen Halblächeln erschienen sie Aurelio wie wandelnde Gemälde. Hin und wieder kreuzte einer ihrer Blicke den seinen und verweilte einen Moment. Dann sah Aurelio von einem wissenden Lächeln umspielte Lippen oder meinte, einem herausfordernd aufblitzenden Blick zu begegnen. Immer war er es, der zuerst seine Augen niederschlug.
    Margherita stand neben dem Wagen und sah zu ihm auf, als warte sie auf eine Antwort. »Was ist jetzt«, fragte sie, »kommst du?«
    Sie stiegen die hundertvierundzwanzig Marmorstufen der »Himmelsleiter« hinauf. Santa Maria in Aracoeli schien für die zweifelhaft gekleideten Frauen mit ihren tiefen Dekolletés und den kurzen Ärmeln nur Missbilligung übrig zu haben. Aurelio hielt sich am Rand der Treppe. Auf dem Hügel ging ein leichter Wind. Von dem Gestank der Piazza wehte nur noch eine Ahnung zu ihnen herauf. Oben angekommen, drehte Aurelio sich um und hielt den Atem an.
    Im kühlen Frühlingslicht, in der Ferne von silbrigen Dunstschleiern verklärt, breitete sich die Stadt unter ihnen aus. In dem scheinbar willkürlich gewachsenen Gassengewirr, das sich wie eine Baumwurzel dem Horizont entgegenarbeitete, sah er Kirchen, leuchtende Türme neuerbauter Palazzi und, schemenhaft wie in einem Traum, die Umrisse der Engelsburg und des Papstpalastes. Rom war, so viel ahnte er, nicht die gleißende Verheißung, die sich von hier oben seinem Auge darbot. Und dennoch … Selbst wenn er nur den kleinen Finger einer Statue Michelangelos fertigen dürfte, wäre das bereits mehr als genug.
    »Hier trennen sich unsere Wege.« Margherita war es, die aussprach, was beide dachten. »Deine Zukunft wartet da oben«, sie deutete mit dem Kinn in Richtung des Vatikans, »meine da unten.«
    Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf die andere Tiberseite nach Trastevere hinüber, wo der Schwager ihrer Freundin wohnte, bei dessen Familie sie für den Anfang Aufnahme zu finden hoffte.
    Aurelio antwortete nicht. Es gab nichts mehr zu sagen. Beim Blick hinüber zum Vatikan gaben seine Knie nach. Schließlich standen Margherita und er einander gegenüber, und Aurelio suchte nach den richtigen Worten, um sich von ihr zu verabschieden. Sie schlang ihre Arme um seine Taille und presste für einen wehmütigen Moment ihren Kopf an seine Brust. Durchströmt von ihrer Wärme, erwiderte Aurelio die Umarmung.
    »Viel Glück«, sagte sie.
    Aurelio glaubte, eine Träne in ihrem Augenwinkel zu sehen. Die Sonne stach durch die Wolken und ließ wie zum Abschied ihre Haare noch einmal aufflammen.
    »Ja«, antwortete er, »viel Glück.«

Teil II
    VII
    »Du willst was ?«
    Aurelio musste sich

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