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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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damals.
    »Ich …«
    »Wo hast du gelernt, bevor du zu mir gekommen bist?«
    »Auf unserem Hof …«
    Michelangelos Stirn legte sich in Falten.
    »Ich weiß, wann das Korn reif ist«, erklärte Aurelio, »und ich kann fühlen, wenn die Kuh kalbt, und ich merke, wenn der erste Frost kommt …«
    »Du weißt, wann eine Kuh kalbt?«
    »Eine Kuh, eine Frau …« Er streckte die Hände vor, spreizte die Finger und legte die Daumen aneinander. »Ich kann sagen, wann es kommt. Ich muss ihr nur die Hände auf den Bauch legen.«
    »Du legst einer Kuh die Hände auf den Bauch und weißt, wann sie kalbt?«
    »Meine Hände haben sich noch nie geirrt, Maestro.«
    Michelangelo ließ die Hände seines Gegenübers nicht aus den Augen: »Und woran merkst du es?«
    Auch Aurelio sah seine Finger an. »Ich …« Er zog die Hände zurück. »Ich weiß es einfach.«
    Zwei von Michelangelos Fingern verschwanden bis zur Hälfte in seinen Bart. »Lass mal sehen.«
    Widerstrebend führte Aurelio die Hände vor den Körper. Michelangelo zögerte, bevor er sie in seine nahm und die Handflächen nach oben drehte. Erst befühlte er Aurelios Fingerknöchel, anschließend drückte er an den Muskeln unterhalb des Daumens herum.
    »Warm«, stellte er fest.
    »Ich habe immer warme Hände«, beeilte sich Aurelio zu sagen.
    »Hm.«
    Inzwischen betastete Michelangelo die Handgelenke. Die Hände des Bildhauers waren, wie Aurelio erstaunt feststellte, ebenso kräftig wie dünn. Ein Mann, der eine neun Ellen hohe Statue aus einem einzigen Marmorblock geschlagen hatte, hätte die Hände eines Riesen haben müssen. Tatsächlich aber waren Michelangelos Finger sehnig und kürzer als Aurelios.
    »Für Hammer und Meißel sind sie nicht gemacht«, stellte er fest.
    »Aber ich will Bildhauer werden!«
    Michelangelo sah ihn an. Hinter seinen Augen schien sich ein Abgrund aufzutun. »Auch ich hatte nie einen anderen Wunsch, als Bildhauer zu werden«, sagte er wie zu sich selbst. »Jetzt jedoch hat mich Seine Heiligkeit unwiderruflich zum Fassadenschmierer degradiert. Du kommst zu spät.«
    Aurelio sah ihn verständnislos an.
    Michelangelo ließ seinen Blick über den belebten Platz schweifen. Mit einem Seufzer gab er Aurelios Hände frei, drehte sich um und ging. Da er ihn nicht ausdrücklich fortschickte, folgte Aurelio ihm in gebührendem Abstand.
    In der Mitte des Platzes erhob sich ein Gebirge aus weißem Marmor, das die gesamte Piazza beherrschte. Bereits auf dem Hinweg hatte Aurelio ungläubig innegehalten und die vielen Dutzend Quader bestaunt, die im Zentrum des Platzes verteilt lagen. Als seien Gott sämtliche Zähne ausgefallen, hatte er gedacht. Eine Gruppe von Kindern rannte umher und spielte Fangen zwischen den Steinen.
    Auch auf der übrigen Piazza herrschte großes Durcheinander. Unablässig fuhren Wagen mit Baumaterialien an ihnen vorüber, die eine provisorisch errichtete Rampe zu Sankt Peter emporgeleitet wurden. Im gleichen Takt verkehrten schuttbeladene Karren in die entgegengesetzte Richtung. Es gab Männer, deren Uniformen sie als Angestellte des Vatikans auswiesen und die offenbar keine andere Funktion hatten, als den Strom aus Menschen, Tieren und Wagen, der zu Sankt Peter hinaufwollte beziehungsweise von dort zurückkehrte, in geordnete Bahnen zu lenken.
    »Was siehst du?«, fragte Michelangelo.
    Die Zähne Gottes, ging es Aurelio wieder durch den Kopf. »Marmor …«, setzte er an, doch in diesem Moment traf ihn die Erkenntnis. »Das Julius-Grabmal!«
    Michelangelo senkte den Kopf wie ein Sünder. »Du siehst das, was das Julius-Grabmal hätte werden sollen. Was jetzt damit geschieht, weiß Gott allein.« Er verfiel in ein Schweigen, das Aurelio nicht zu unterbrechen wagte. »Einhundert Wagenladungen besten Carrara-Marmors. Mehr als ein halbes Jahr habe ich dort in den Bergen zugebracht und die Blöcke ausgesucht, manche selbst gebrochen. Wir mussten eine Straße in den Berg schlagen, um sie ins Tal zu bringen. Einer meiner Gehilfen – ein junger Mann, nicht älter als du – wurde unter einem von ihnen zerquetscht. Als wir sie entluden, ist ein Kran in den Tiber gestürzt, und eines der Schiffe ist wegen des Gewichts aufgrund gelaufen. Allein der Transport hat mich hundertvierzig Dukaten gekostet …« Ihm ging die Luft aus. »Zwei Jahre liegt das jetzt zurück. Seither schimmeln die Blöcke vor sich hin. Und heute hat er endgültig entschieden, mich statt mit dem Grabmal mit der Bemalung der Sistina zu beauftragen. Wenn es nach

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