Der Sixtinische Himmel
ihm geht, kann ich aus dem Marmor zehntausend handtellergroße Juliusse schnitzen und sie an die Pilger verhökern.« Aurelio war nicht sicher, ob Michelangelo nicht längst nur noch mit sich selbst redete und ihn inzwischen vergessen hatte. Doch dann sprach er ihn wieder direkt an. »Hier …« Er bahnte sich den Weg zwischen einigen Steinen hindurch und führte Aurelio zu einem Block von fünf Ellen Länge, der schräg auf einem zweiten lag. »Runter da!«, knurrte er einen Jungen an, der mit überkreuzten Beinen auf dem Stein saß und seine Freunde beim Spielen beobachtete.
Ungläubig ließ sich der Junge den Stein hinunterrutschen und lief davon. Aurelio hätte nicht sagen können, woran, aber selbst er erkannte, dass dies ein besonderer Block war. So, wie Michelangelo jetzt seine Hände auf den Stein legte, bedächtig und mit gespreizten Fingern, fühlte sich Aurelio an das Schaf erinnert, dem er selbst einen Tag zuvor die Hände auf den Bauch gelegt hatte. Als trage auch der Marmor etwas Lebendiges in sich.
»Dieser Block hätte die zentrale Figur freigeben sollen …« Langsam strich Michelangelo über die Kante. »Ich habe neben ihm geschlafen, im Steinbruch, als er noch Teil eines Berges war. Ich habe im Sonnenaufgang beobachtet, wie er das Licht bricht, ob er Adern hat, habe ihn berochen, befühlt, in ihn hineingehorcht. Hier« – sein Daumen rieb über eine Kerbe –, »hier habe ich das Eisen angesetzt.« Die Schultern gebeugt, stützte Michelangelo sich auf. »Gott allmächtiger …«
Plötzlich wirkte der Mann, der kurz zuvor noch einem Bataillon die Stirn geboten hätte, als könne ihn bereits ein Windstoß von den Beinen reißen. Langsam wandte er Aurelio den Kopf zu. Der Zorn des Bildhauers lag begraben unter einem Gefühl, das schwerer wog als alles andere. Seine Augen, die Aurelio eben noch so feindselig angeblitzt hatten, waren jetzt nach innen gerichtet und ertranken in unaussprechlicher Trauer.
VIII
Nur drei Straßen entfernt erwartete Aurelio die nächste Überraschung. Die dem Petersplatz benachbarte Piazza Rusticucci war ein Ort voller Unauffälligkeiten – keine Palazzi, keine Obelisken, keine Statue. War der Petersplatz von einem wilden Durcheinander umherlaufender Menschen und umherfliegender Stimmen erfüllt gewesen, so herrschte hier, wenig mehr als einen Steinwurf entfernt, die unaufgeregte Geschäftigkeit eines Dorfplatzes. Im Zentrum standen ein Brunnen sowie eine steinerne Viehtränke, nach Osten schloss sich eine Kirche an, die dem Trog und dem Brunnen an Bescheidenheit kaum nachstand. Eine der abgehenden Straßen, die allesamt ungepflastert waren, führte auf direktem Weg zur Engelsburg hinüber.
Michelangelo ging links an der Kirche vorbei und tauchte in ein Labyrinth ein. Er hatte den schwachen Moment überwunden, der für einen Augenblick seinen inneren Abgrund offenbart hatte, und legte erneut ein Tempo vor, das geeignet gewesen wäre, Verfolger abzuschütteln. So jedenfalls kam es Aurelio vor: Als litte der große Bildhauer unter dem Gefühl, ständig verfolgt zu werden.
Michelangelo sah sich um: »Hier.«
Sie standen unter dem Vordach eines Hauses, das sich zwischen die angrenzenden Häuser gedrängt zu haben schien und dessen Putz bereits abbröckelte. Aurelio versuchte, nicht allzu überrascht auszusehen. Eines zeigte sich bereits jetzt: Michelangelo war kein Freund unnötiger Worte oder langer Erklärungen. Sollte es dem Bauernsohn aus Forlì tatsächlich gelingen, in seine Dienste zu treten, würde er schnell lernen müssen.
Michelangelos Arm verschwand zur Hälfte in seinem Umhang und förderte einen Ring mit Schlüsseln zutage, die Aurelios Handspanne überragt hätten. Zwei Bolzen gaben geräuschvoll die Tür frei. Sie betraten einen fensterlosen Vorraum, in dessen Mitte ein provisorisch errichteter Tisch aus Böcken und losen Brettern aufgebaut war, um den sich vier wackelige Stühle verteilten. Über die linke Längswand zog sich eine Treppe, die ins Obergeschoss führte. Mehr gab es nicht zu entdecken. Michelangelo stieß die Flügeltür an der Stirnseite auf, die einen weiteren, größeren Raum offenbarte. An der linken Wand stand eine grobbehauene, vergessen wirkende Marmorsäule, der Boden war von weißem Staub bedeckt.
»Eure Werkstatt«, schloss Aurelio.
»Meine Bottega und mein Zuhause.«
»Ihr wohnt hier?«
»So, wie du – vorausgesetzt, ich finde eine Aufgabe für dich.«
Aurelio war zu überrascht, um zu antworten. Derselbe Mann, der
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