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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Michelangelo stampfte die Stufen vor Sankt Peter hinab, als wolle er sie dem Erdboden gleichmachen.
    »Ich möchte in Eure Dienste treten, Herr.«
    Mitten auf der Treppe blieb Michelangelo stehen. Aurelio stolperte halb in ihn hinein. Der Bildhauer warf dem Neuankömmling aus seinen dunklen Augen einen brodelnden Blick zu, sog geräuschvoll die Luft durch die Nase, stieß ein »Pah!« aus und stampfte weiter. Kaum hatte er den Vorplatz erreicht, beschleunigte er noch einmal seinen Schritt. Sein Bart und seine Haare standen in sämtliche Himmelsrichtungen ab, und sein Umhang schien, ebenso wie Aurelio, kaum mit ihm mithalten zu können.
    Als Michelangelo klar wurde, dass sich Aurelio auf diese Weise nicht würde abschütteln lassen, rief er im Gehen: »Wer hat dich geschickt? Bramante, Raffael oder gar Julius selbst?«
    Aurelio verstand kein Wort: »Niemand, Maestro Buonarroti.«
    Abermals hielt Michelangelo unvermittelt inne. Diesmal bohrte sich sein Blick einen Atemzug länger in Aurelios Augen. »Pah!«, rief er erneut und setzte seinen Weg fort.
    Bis Aurelio wieder zu sich gefunden hatte, war der Bildhauer ihm bereits enteilt. Sollten soeben auf einen Schlag all seine Pläne, seine Wünsche und Träume zunichtegemacht worden sein? Hatte er dafür all die Mühen auf sich genommen – um der Laune eines Augenblicks geopfert zu werden?
    »Hört mich an, Maestro, ich bitte Euch!«
    Endlich blieb Michelangelo stehen, richtig stehen. Er war einen halben Kopf kleiner als sein Gegenüber, doch seine Präsenz hätte ein Bataillon aufgehalten. »Was?«
    Aurelio wusste nicht, was er sagen sollte. »Ich …«
    »Wessen Idee war das? Für wen sollst du spitzeln? Bramante? Es ist Bramante, nicht wahr? Natürlich ist es Bramante.«
    »Aber …« Aurelio drohte die Stimme zu versagen. »Die Herren, von denen Ihr sprecht, sind mir nicht bekannt.«
    »Du behauptest, nicht zu wissen, wer Bramante ist?«
    »Nein, Maestro, ich meine: ja. Ich kenne ihn nicht.«
    »Du weißt nicht, wer Bramante ist, aber du weißt, wer ich bin?«
    »Natürlich. Ihr seid Michelangelo Buonarroti, der berühmte Bildhauer.«
    Einen Moment schien Michelangelo zu überlegen, ob er sich diese Schmeichelei gefallen lassen sollte. Dann sagte er: »Schlau ausgeheckt, aber so leicht gehe ich euch nicht auf den Leim. Aus meinen Augen!«
    Aurelios Gedanken überschlugen sich. Hatte er etwas Falsches gesagt? »Aber ich möchte in Eure Dienste treten«, wiederholte er verzweifelt. »Ihr habt den Kandelaberengel in der Basilika in Bologna erschaffen und den David in Florenz, der nirgends auf der Welt seinesgleichen hat.«
    Aurelio bemerkte eine erste Irritation im Blick des Bildhauers. Michelangelo zog seinen abgewetzten Umhang enger, der sich beim Gehen gelöst hatte. Noch immer machte er dieses Geräusch beim Atmen, dieses leise Pfeifen, wie damals.
    »Den Kandelaberengel?«
    »Ich war noch ein kleiner Junge, als ich ihn das erste Mal sah. Ihr selbst habt mir erklärt, wie unvollkommen er sei – dass die Proportionen missraten seien …« Aurelios Gedanken überschlugen sich. »Seither habe ich ihn jedes Jahr besucht«, beeilte er sich hinzuzufügen, »und ja, es ist wahr, seine Proportionen sind … nicht perfekt. Auf seine Weise aber ist er dennoch vollkommen …«
    Michelangelo kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich selbst soll dir die Makel meiner Arbeit aufgezeigt haben?«
    Aurelio hatte das Gefühl, Stück für Stück auf festen Boden zurückzukehren. Er bemühte sich, weniger gehetzt zu sprechen. »Ihr standet plötzlich neben mir, und als ich sagte, wie schön der Engel sei, spracht Ihr nur davon, dass die Wölbung des Fußrückens nicht gelungen und die Finger zu dick seien …«
    Michelangelo brachte Aurelio zum Schweigen, indem er eine Hand hob. Er wandte einen Blick zur Engelsburg, der sich jedoch bereits auf halbem Weg dorthin in den Gassen verlor. Sein Krausbart strich träge über die Brust.
    »Der kleine Junge damals …« Er wandte sich wieder Aurelio zu, und als er ihn diesmal ansah, war es, als lege er seine Waffen vor ihm nieder. »Das warst du?«
    * * *
    »Was kannst du?«
    Noch immer standen sie auf der Piazza vor Sankt Peter. Seit er sich an die Situation von damals erinnert hatte, schien Michelangelo keine Eile mehr zu haben. Aurelio hatte es ihm erklärt: Wie er nach Rom gekommen war, warum zu ihm, Michelangelo, und dass er es tief im Inneren immer schon gewusst hatte, seit

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