Der Sixtinische Himmel
Der Florentiner Freund und Kollege, dessen Eintreffen Michelangelo seit Tagen ersehnte, war, so hatte er seinem Gehilfen erklärt, nicht nur Bildhauer und Architekt, sondern hatte sich auch als Ingenieur einen Namen gemacht. Michelangelo war überzeugt davon, dass er der richtige Gerüstbauer für diese Aufgabe war. Stattdessen aber hatte der Papst wieder einmal Bramante den Vorzug gegeben.
Je länger Michelangelo schwieg, desto selbstsicherer wurde Bramantes Lächeln.
»Ihr habt die Bühne an Seilen in der Decke verankert – warum?«, fragte Michelangelo.
Bramante legte sich sein langes Silberhaar über die Schulter. »Ganz einfach: Damit sie nicht herunterfällt.«
»Das Gerüst soll ohne Pfeiler und Stützbalken auskommen«, ergänzte Julius. »Ich möchte, dass der Boden frei bleibt, damit auch während der Umgestaltung die vorgesehenen Zeremonien abgehalten werden können.«
»Ich soll da oben das Fresko anbringen, während hier unten die Messe gelesen wird?«
»So ist es. Doch sorgt Euch nicht. Die Bühnen des Herrn Donatello Bramante werden das gesamte Gewölbe unsichtbar machen.«
Bevor Michelangelo Gelegenheit hatte, den nächsten Einwand vorzubringen, wurde dieser von Bramante bereits entkräftet. »Die Seilkonstruktion wird es Euch erlauben, den Abstand zur Decke nach Belieben zu verändern. So könnt Ihr die Wölbung ebenso gut erreichen wie die Decke.«
Bramante zupfte ein einzelnes Haar von seinem Ärmel, wagte jedoch nicht, es in Gegenwart des Papstes auf den Boden fallen zu lassen. Stattdessen wickelte er es um seinen Finger und ließ es in seiner Westentasche verschwinden. Er war hochgewachsen, kräftig, und sein Gesicht war, wie Aurelios Mutter es formuliert hätte, hart, wo es hart sein sollte, und weich, wo es weich sein sollte. Unter einer prominenten Stirn saßen große, dunkle Augen, das maskuline Kinn wurde von feinen Linien umspielt. Seine Kleidung war elegant, aber schlicht: eine Samtweste in dunklem Violett über einem schwarzen, geschlitzten Hemd, dessen Kragen am Hals durch einen einzigen, edelsteinbesetzten Knopf geschlossen wurde. Keine Verbrämungen, keine Goldfäden, keine Schnallen oder Spangen. In seinen Augen jedoch lauerte der Heißhunger, den er in seinem Namen trug.
Michelangelo inspizierte das Gerüst. Einen Moment lang war nur sein Schnaufen zu hören. »Was ist mit den Löchern?«, fragte er.
»Was für Löcher?«, entgegnete Bramante, dessen hohe Stimme nicht recht zu seiner würdigen Erscheinung passte.
»Die Löcher, die die Verankerungen in der Decke zurücklassen werden, sobald das Gerüst abgehängt wird.«
»Nun«, Bramante sprach wie zu einem ungelehrigen Schüler, »man wird sie zuspachteln müssen. Für einen Mann von Euren Fähigkeiten sollte das …«
»Aber sie werden zu sehen sein.«
»Sie werden … Natürlich werden sie zu sehen sein – als Punkte. Mit bloßem Auge kaum erkennbar. Anders kann es eben nicht gemacht werden!«
Bevor sie hergekommen waren, hatte Michelangelo seinem Gehilfen eine Münze gezeigt, die Julius hatte prägen lassen, nachdem er Bramante zum Baumeister von Neu-St. Peter ernannt hatte. Darauf war der Architekt als Büste mit freiem Oberkörper dargestellt – einem römischen Kaiser gleich. Es bedurfte keiner besonderen Phantasie, um sich vorzustellen, wie dieser Mann sich in der Rolle desjenigen gefiel, der, umringt von schönen Frauen und bekannten Größen aus Klerus, Politik und Gesellschaft, griechische Gedichte rezitierte oder auf der Laute improvisierte. Wenn es stimmte, was Michelangelo seinem Gehilfen gesagt hatte, und Bramante – ebenso wie Aurelio – der Sohn eines Provinzbauern war, dann hatte er vergessen, woher er kam.
»Heiliger Vater.« Michelangelo wusste, an wen er seine Worte zu richten hatte. »Ich habe von Euch den Auftrag erhalten, dieses Gewölbe mit einem neuen Fresko zu versehen, weil das alte Risse bekommen hat. Und jetzt wird von mir verlangt, es mit Löchern zu spicken?«
Julius’ Geduld begann zu erlahmen. Sein Stock, auf den er sich bis dahin gestützt hatte, wackelte hin und her. Er wandte sich an Bramante. Für einen Moment bildeten sie ein Dreieck, in dem jeder den Mann zu seiner rechten fixierte.
»Das scheint mir ein berechtigter Einwand zu sein«, sagte er. »Was meint Ihr, Donatello?«
»Eine andere Lösung gibt es nicht!«, beharrte Bramante. Offenbar hatte er erwartet, Michelangelo angesichts seiner Konstruktion vor Ehrfurcht auf die Knie sinken zu sehen. Stattdessen
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