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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Aufwärterinnen. Dann schloss sich die Tür wieder, und ein allgemeines Gemurmel setzte ein. Aurelio verstand jetzt, was Margherita ihm im Schatten der Stadtmauer erklärt hatte: dass Aphrodite von überirdischer Schönheit war. Dass der Papst besessen von ihr war und den Verstand zu verlieren drohte bei dem Gedanken, sie könnte einem anderen gehören. Sie war diabolische Verheißung und göttliche Bestrafung zugleich. Bereits der Anblick ihrer verhüllten Gestalt entfachte ein unerklärliches Verlangen.
    »Ist sie wirklich die schönste Frau der Welt?«, flüsterte er.
    »Neben vielen anderen Dingen, Aurelio, ist Schönheit eine Frage der Komposition. Drei Töne einer Orgel können, sofern sie richtig gesetzt sind, ein ganzes Kirchenschiff erstrahlen lassen. Schlecht gesetzt können dich dieselben drei Töne in die Flucht jagen.«
    Erneut breitete sich Schweigen über den Platz aus. Die Tür des Goldschmieds hatte sich wieder geöffnet. Aphrodite erschien, trat unter der Markise hervor und verweilte am Kopf der Stufen in der sich bereits neigenden Nachmittagssonne. Ihr Gesicht dem Himmel zugewandt, zeichneten sich die Konturen ihres Profils durch den Schleier ab – die gerade Nase, die sinnlichen Lippen, das ausgeprägte Kinn, der schlanke Hals. Aurelio trank ihren Anblick mit den Augen. Der Schleier war kaum mehr als eine zweite Haut. Rosenblüten. Der Duft, den Julius in der Kapelle verströmt hatte – es war ihrer. Nach einer kleinen Ewigkeit begann Aphrodite, ihren Blick über das Stadion schweifen zu lassen. Als sie Michelangelo und seinem Gehilfen, die ein halbes Dutzend Schritte von ihr entfernt standen, den Kopf zuwandte, spürte Aurelio seine Knie nachgeben. Er wusste, dass sie ihn ansah. Hinter dem Schleier ging eine Veränderung vor. Ein Lächeln? Aurelio richtete den Blick zu Boden.
    Bis er sich gesammelt hatte und den Kopf zu erheben wagte, war Aphrodite bereits am Fuße der Stufen angelangt und verschwand in der Kutsche. Kaum setzten sich die Pferde in Bewegung, kamen aus allen Richtungen Kinder angerannt und versuchten, die Seidentücher zu ergattern, die noch auf dem Boden lagen. Wer in den Besitz eines Tuches kam, schwenkte es stolz über dem Kopf und verschwand damit in der Menge. Aurelio sah die Kutsche in das nördliche Tor einbiegen. Kurz darauf deutete nichts mehr auf das Ereignis hin, das sich soeben zugetragen hatte. Die Gaukler trieben ihre Späße, die Händler priesen ihre Waren an, und sogar das schimpfende Ehepaar hatte wieder zu streiten begonnen.
    »Nun, was glaubst du: War das die schönste Frau der Welt?«
    »Ja«, flüsterte Aurelio gedankenverloren.
    »Möglich«, antwortete Michelangelo, »aber gesehen hast du es nicht.«
    »Sie hat mir zugelächelt.«
    »Auch das ist möglich«, stellte er fest, »aber gesehen hast du es nicht.«

XIII
    Julius und Bramante erwarteten Michelangelo bereits. Als dieser, gefolgt von seinem Gehilfen, die Kapelle betrat, verstummte augenblicklich das Gespräch, das der Papst und sein Baumeister geführt hatten.
    »Ah, der Freskant und seine Muse«, begrüßte ihn Bramante. Die Nachricht von Michelangelos »Quell der Inspiration« hatte sich offenbar schnell verbreitet.
    Die linke Hand des Meisters ballte sich hinter seinem Rücken zur Faust. »Eure Heiligkeit.« Er verbeugte sich vor Julius. Bramante nahm er mit einem angedeuteten Kopfnicken zur Kenntnis, dem er einen drohenden Blick folgen ließ.
    Julius sah spitzbübisch zwischen den Kontrahenten hin und her. Die unverhohlene Feindseligkeit, mit der die beiden sich begegneten, schien ihm eine ebenso unverhohlene Freude zu bereiten.
    Aurelio, der am Eingang verharrte in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, verstand sofort, warum sein Meister so abfällig über den Architekten gesprochen hatte. In Bramante erkannte Michelangelo das wieder, was er an sich selbst so sehr hasste: Hochmut. Bramante glaubte, mehr zu gelten – als Mensch.
    Der Papst schlug einen versöhnlichen Ton an. »Mein teurer Buonarroti. Ich bin erfreut, Euch zu sehen.« Er deutete zur Decke. »Was haltet Ihr davon?«
    Gegenüber dem Altar schwebte eine hölzerne Plattform unter dem Deckengewölbe. Sie überspannte die gesamte Breite von nahezu vierzig Fuß und musste an die fünfzehn Fuß tief sein. Bramante strich die Falten seiner Samtweste glatt. Seine Mundwinkel deuteten ein Lächeln an.
    Eigentlich hätte Piero Rosselli das Gerüst für die Arbeiten am Gewölbe bauen sollen. So jedenfalls hatte Michelangelo es geplant.

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