Der Sixtinische Himmel
musste er sich nun für sie rechtfertigen.
Julius richtete seinen Blick auf Michelangelo: »Mein Baumeister sagt, es gebe keine andere Lösung.«
Michelangelo legte den Kopf schief, betrachtete die unter der Decke schwebende Bühne und ging einige Schritte. Eitelkeit. Er wusste, wo Bramante am verwundbarsten war. »Gebt mir zwei Tage, Heiliger Vater.«
Bramante konnte nicht länger an sich halten. »Wie könnt Ihr glauben …?«
Julius’ Stock löste sich vom Boden und ließ den Architekten verstummen. »Ihr glaubt, eine andere Lösung zu finden?«, fragte der Papst.
Michelangelo hielt den beiden den Rücken zugekehrt. »Dessen bin ich mir sicher.«
»Innerhalb von zwei Tagen?«
»Höchstens.«
Erneut wollte Bramante protestieren. Diesmal jedoch genügten bereits zwei abgespreizte Finger des Papstes, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sein Zorn entlud sich stattdessen in einer schwungvollen Bewegung, mit der er seine Haare über die Schulter warf.
»Ergo.« Julius schien eine Entscheidung getroffen zu haben. »Die Herren Bramante und Buonarroti werden sich abermals an diesem Ort einfinden, übermorgen, im Anschluss an die Messe.«
Michelangelo verbeugte sich. »Heiliger Vater.«
Er ging zwischen Bramante und dem Papst hindurch auf den Ausgang zu. Kaum hatte er die beiden im Rücken, bemerkte Aurelio, wie seine Lippen ein triumphales Grinsen zu unterdrücken versuchten und daran scheiterten. Eitelkeit. Nirgends schien sie auf einen fruchtbareren Boden zu fallen als in dieser Stadt.
* * *
»Am Ende also widerfährt mir doch noch Gerechtigkeit!«, rief Michelangelo und breitete die Arme aus.
Die Passanten in Hörweite blickten sich nach ihm um. Noch ein Verrückter mehr in dieser von Verrückten wimmelnden Stadt. Aurelio und sein Meister hatten den Vatikan verlassen und überquerten die Piazza Rusticucci auf dem Weg zurück zu Michelangelos Haus. Aurelios Frage, wie er sich eine Arbeitsbühne vorstellte, die auf Pfeiler und Stützbalken verzichtete, ohne in der Decke verankert werden zu müssen, hatte Michelangelo mit aufeinandergepressten Lippen und einem Stirnrunzeln quittiert. Plötzlich jedoch hellte sich sein Gesicht auf.
Unter den Menschen, die sich auf der Piazza drängten, war ein Mann, der nun ebenfalls die Arme ausbreitete: »Carissimo Fratello!«, liebster Bruder, rief er. Sein Gesicht strahlte vor ehrlich empfundener Freude, ebenso wie das Michelangelos.
An der Art, wie sein Meister den Mann in die Arme schloss, erkannte Aurelio den Grund für seinen plötzlichen Freudenausbruch: Erleichterung. Michelangelo hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich in dieser Stadt von Widersachern, Neidern, Betrügern und Quälgeistern umringt glaubte. Nun – offenbar gab es auch Menschen, die ihm wohlgesinnt waren.
Als sich die Männer aus ihrer Umarmung lösten, schien Michelangelo zwei Fingerbreit gewachsen zu sein. »Ich wusste, du würdest mich nicht im Stich lassen.«
»Granacci sagte, du brauchst meine Hilfe.« Erneut blitzten die Zähne des Mannes auf. »Was hätte ich da schon tun können?«
Michelangelo legte ihm eine Hand auf die Schulter und winkte mit der anderen seinen Gehilfen herbei. »Aurelio! Steh da nicht rum wie ein Ablassverkäufer. Komm her und begrüße meinen Freund Piero.«
Piero Rosselli, schoss es Aurelio durch den Kopf, der Mann, der das Gerüst hätte bauen sollen. Er ergriff die Hand, die Rosselli ihm entgegenstreckte. In dessen Blick lag nichts als unverstellte Freundlichkeit. Eine Begrüßung ohne Argwohn. Sie würden sich verstehen.
XIV
»Was hast du die letzten Jahre getrieben?«, wollte Michelangelo wissen, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
»Du weißt doch, wie das bei mir ist: hier ein Stück Marmor, da eine Fassade, ein paar Auftragswerke … kein Grund zur Klage.«
Obgleich Piero ein Jahr älter war als Michelangelo, wirkte er deutlich jünger. Die vielen Sommersprossen verliehen seinem Gesicht etwas Jungenhaftes, außerdem schien er nicht von Sorgen geplagt, was ihn um weitere fünf Jahre verjüngte. Seine Kleidung war einfach, sein Blick unvoreingenommen, sein Wesen uneitel. Als Michelangelo die Tür zur zweiten Kammer öffnete, die ebenso dunkel und klein war wie die Aurelios, und von Piero wissen wollte, ob er damit zufrieden wäre, zog der nur die Schultern hoch: »Zu etwas anderem als zum Schlafen werde ich sie kaum brauchen.« Rosselli fragte, welche Aufgaben Michelangelo seinem neuen Gehilfen zugedacht habe. Dieser
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